Das große Rad drehen ist eine mystische Übung zur Verfeinerung des Qi; man öffnet sich in eine neue Dimension, in den Wirkungsbereich der Hun- oder Geist-Seele. Mit dieser Übung findet eine Transformation von der Ebene des Körperlich-Grobstofflichen zur Ebene des Geistig-Feinstofflichen statt.
„Das Große Rad“ ist eigentlich bekannt als Begriff aus dem Buddhismus, wo es als „Lebensrad“ verstanden wird, und wo es darum geht, die karmatisch geprägte, endlose Zahl der Wiedergeburten zu durchbrechen und ins Nirwana einzugehen. „Das Rad drehen“ verfolgt also buddhistisch interpretiert das Ziel, dem Kreislauf der Wiedergeburten zu entfliehen, sodass die Hun-Seele in keinen gewöhnlichen Körper mehr schlüpfen muss.
Aus daoistischer Sicht kann man das Rad aber auch als „rückläufiges Mühlrad“ verstehen, und dadurch entsteht ein Bezug zum Kreislauf des Lichts, speziell dem „Kleinen Himmelskreislauf“; einer Übungsmethode, die das Lenker- und Konzeptionsgefäß energetisch miteinander in Verbindung bringt. Diese uralte daoistische Meditationsübung ist in der Tafel des Inneren Gewebes (chinesisch Nei Jing Tu), die man in Peking im Tempel der weißen Wolke im Original bewundern kann, in Form eines Gemäldes mit schriftlichem Begleittext dargestellt.
Und tatsächlich findet sich im unteren Teil des Bildes ein Mühlrad, das von einem Jungen und einem Mädchen gedreht wird. Sie pumpen das Wasser – energetisch die Essenz und das daraus destillierte Ursprungs-Qi durch das Steißbein-Tor, den Weilü-Pass – entgegen seiner natürlichen Bewegungsrichtung – nach oben in den Rückenmarkskanal.
Im Begleittext heißt es: „Das Wasser des abgründigen Kan fließt gegenläufig nach oben. … ganz allmählich vollzieht sich der Umlauf der treibenden Kraft und ändert das Fließen des Wassers nach Osten. Auch wenn der Meeresgrund 10 000 Fuß Tiefe hat, sollte man das Sprudeln der süßen Quelle erkennen, das bis zum Gipfel der Südberge – gemeint ist das Gehirn (Anmerkung d. V.) – aufsteigt.
Dass dieser Bedeutungsrahmen nicht ganz unzutreffend ist, kann auch aus dem Gedicht herausgelesen werden, das der 4. Übung des Fan Huan Gong beigefügt ist. Hier heißt es ganz eindeutig: „Das Große Rad beständig drehen gleicht dem Kreislauf der Energie. …. Das Mark – gemeint ist das Rückenmark und die Gehirnsubstanz (Anmerkung d. V.) – neun Jahre lang waschen, bis es alle Farbe verloren hat – nach rechts, nach links ohne Pause die Drehung in Gang halten.“
Die Drehbewegungen des Rumpfes und die Bewegungen der Arme nach oben und unten verbinden den Übenden in der 4. Fan Huan-Übung also nicht nur mit dem Qi von Himmel und der Erde, diese Bewegungen symbolisieren und aktivieren zugleich auch den „Kreislauf des Lichts“, die Zirkulation der Energie im Lenker- und Konzeptionsgefäß.
Ausgehend vom engen V-Stand am Ende der 3. Bewegung dreht sich der Rumpf nach links; die Knie bleiben dabei weich und locker. Die linke Hand folgt der Körperdrehung und geht gürtelförmig nach hinten zur Lendenwirbelsäule. Der Handrücken legt sich auf das Lebenstor, den Mingmen-Bereich, wobei Daumen und Zeigefinger einen geschlossenen Ring bilden, der zum Himmel zeigt. Die rechte Hand liegt schalenförmig vor der vorderen Eintrittspforte des unteren Dantian, dem Qihai-Punkt. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand berühren sich nicht, bilden aber einen offenen energetischen Ring.
Wie schon bei der 2. Übung erklärt, wird das geschlossene Tigermaul mit der Sonne, das halboffene mit dem Mond in Verbindung gebracht. Sonne und Mond stehen auch für verschiedene Aspekte des Shen (s. o.). Das Tagesbewusstsein, die Sonne, wandert also bei der oben beschriebenen einleitenden Übungsphase aus dem Blickfeld und geht nach hinten zum Rücken, ins Dunkle, in die Nacht: Bewusstes, Offensichtliches, Sichtbares, Rationales rückt in den Hintergrund. Der Mond, das Traum- und Tiefenbewusstsein, bleibt vorne im Gesichtskreis, d.h. Unbewusstes, Intuitives, Schöpferisches, Mystisches wird ans Licht gebracht.
Während die linke Hand – die Sonne – auf Mingmen ruht, beginnt die rechte Hand – der Mond – mit der Einatmung zu steigen und folgt dabei der Drehung des Rumpfes nach links. Auf Höhe des Scheitels angekommen dreht die Handfläche nach vorne und dann nach rechts außen. Der Rumpf und der Kopf folgen dieser Drehung nach rechts, sodass der Blick auf den rechten Handrücken fällt.
Nun beginnt mit der Ausatmung die rechte Hand zu sinken, wobei sich die Fingerspitzen langsam nach unten zur Erde neigen. In der Verdrehung nach rechts beugt sich auch der Oberkörper nach unten, der Rücken bleibt dabei gerade, die Hüften sind locker, die Knie weich und leicht gebeugt.
Die rechte Hand fährt mit der Kreisbewegung fort und streicht vor den Füßen von links nach rechts über die Erde; Kopf und Rumpf drehen sich mit. Am Ende der Bewegung nach links dreht sich die rechte Handfläche langsam nach oben zum Himmel. Mit der erneuten Einatmung beginnt die Hand wieder zu steigen, Lenden-, Brust- und Halswirbel richten sich auf, wobei die Verdrehung des Rumpfes nach links aufrechterhalten wird, bis die Fingerspitzen wieder wie Antennen zum Himmel zeigen.
Anschließend dreht der Rumpf nach vorne und über die Mitte wieder nach rechts. Die Mondhand folgt und beschreibt mit der Ausatmung einen Viertelkreis nach unten, bis sie auf Höhe der Hüften angelangt ist. Jetzt tauschen die Hände ihre Rollen. Der Mond verwandelt sich in die Sonne, das heißt das Tigermaul der rechten Hand schließt sich und der rechte Handrücken legt sich auf Höhe des 2. und 3. Lendenwirbels im Mingmen-Bereich auf den unteren Rücken. Gleichzeitig öffnet sich das Tigermaul der linken Hand, die Sonne wird zum Mond; die linke Hand kommt kreisförmig nach vorne vor den Unterbauch und mit der Drehbewegung nach rechts beginnt der Mond erneut zu steigen. Wie oben beschrieben, jedoch seitenverkehrt, wird die Kreisbewegung jetzt mit der linken Hand vollzogen.
Nach dem 4. Handwechsel steigt die rechte Hand ein letztes Mal nach oben zum Himmel, die linke Hand löst sich sogleich wieder vom Lebenstor, sodass mit den Armen eine Erd-Himmels-Achse entsteht. Dann strecken sich beide Arme auf Schulterhöhe horizontal aus, und mit den Fingerspitzen hat man das Gefühl den fernen Horizont zu berühren. Mit einer sammelnden Bogenbewegung schließen sich die Arme vor der Stirn und die Hände führen einen Qi-Ball hinunter zum Unterbauch, ins untere Dantian. Dann die Hände rautenförmig vor Dantian halten und in dieser Position die Aufmerksamkeit einen Moment lang im unteren Zinnoberfeld halten.
Die Nabe, das Zentrum des Rades oder der Kreisbewegung ist das Mingmen, unser Lebenstor. Während hier im Wechsel eine Hand ruht, kreist die andere unaufhörlich, was auch erneut eine Regulation von Yin und Yang ergibt. Mit dem Mondlauf, der Kreisbewegung der aktiven Hand, berührt man gleichzeitig die Erd- und die Himmelswurzel.
Der Mensch, als Mittler aufgespannt zwischen Himmel und Erde, greift das Qi der Erde, führt es nach oben, um es in den Himmel zu senden. Umgekehrt empfängt er das Qi des Himmels, um es weit in die Erde sinken zu lassen. So vereinigt der Mensch bewusst Himmel und Erde.
Die körperlichen Durchgangskanäle für diesen Austausch von Erd- und Himmels-Qi sind die Leitbahnen, unsere Meridiane, wobei im beschriebenen Übungsablauf der 4. Fan Huan Übung neben den Leitbahnen von Blase und Gallenblase besonders auch das Lenker- und Konzeptionsgefäß angesprochen sind bzw. aktiviert werden. Die dem Qigong-Üben innewohnende Dialektik setzt hier einerseits geöffnete, freie Leitbahnen voraus, andererseits führt das Ausführen der Bewegungen genau auf dieses Ziel hin. Es ist also angesagt auf jedem Niveau, in jedem Zustand damit anzufangen.
Das Kreisen des Mondes bedeutet, auf den Punkt gebracht, eine Sichtbarmachung bzw. nicht wertende Wahrnehmung unserer oft un- bzw. unterbewussten Ego-Strukturen. Damit verstärkt die 4. Übung zunächst einmal noch das, was meist im tiefsten Keller unserer Körperseele schlummert, z.B. Regungen wie Gier, Überheblichkeit, Machtstreben, Verlustangst und viele andere mehr oder weniger obsessive Leidenschaften. „Müssen, Wollen, Haben“ sind die Leitwörter, die uns umtreiben, wenn die Po-Seele unser Bewusstsein sklavisch beherrscht und unsere Handlungen bestimmt.
Wenn wir lernen diesen Mechanismen auf die Schliche zu kommen, wenn wir die Wahrnehmung unseres „Inneren Beobachters“ schärfen, öffnet sich der Weg um Schritt für Schritt von so manchen versteckten Anhaftungen und Begierden frei zu werden. So können wir die Dominanz der Körperseele Po behutsam eindämmen, ohne sie dabei völlig in Frage zu stellen. Nicht jeder Trieb muss weiterhin instinkthaft ausgelebt werden, nicht jedes Bedürfnis schreit nach sofortiger Befriedigung mehr. Dies nennen die Daoisten seit altersher „die Po-Seele erleichtern“ oder „den Roten Staub“ beseitigen. Ein wichtiger Vorgang im Prozess der Selbstkultivierung.
Und genau dieser Vorgang ist auch im Text der 4. Fan Huan-Übung gemeint, wenn vom unermüdlichen „Waschen des Marks“ die Rede ist. Das Mark, die materielle Substanz unseres Gehirns, wird gereinigt. Dann ist unser Leben nicht mehr vorrangig oder gar triebhaft von materiellen Bedürfnissen gesteuert. Universelle Erkenntnis, Klarheit des Bewusstseins, Weisheit und Gelassenheit bestimmen unseren Geist und unsere Gefühle, und klares, korrektes Handeln im Sinne des WuWei regiert unser Tun.
Fazit
Die geometrische Form der 4. Übung ist der Kreis. In den folgenden Übungen ergibt sich keine weitere geometrische Struktur. Die materiell-physische Welt mit ihren Grenzen von Raum und Zeit wird überwunden, sobald wir in die 5. Übung eintreten. Es ist die Welt der Geistseele Hun, in der wir uns fortan bewegen. Diese haftet im Immateriellen, im Metaphysischen.