Zum Ursprung, zur Quelle zurückkehren
Von Walter Gutheinz/Berlin
Fast 30 Jahre ist es jetzt her, dass Prof. Cong Yong Chun aus Fuzhou/Südchina diese Qigong-Übung nach Deutschland und Österreich brachte. Zunächst war es nur meinem Lehrer Dr. Gerhard Wenzel in Schwarzach vorbehalten, diesen Methodenzyklus mit Prof. Cong zu üben, doch wir SchülerInnen ließen nicht locker, bis uns selbst dieses Geschenk zuteil wurde. Das entsprach ganz der bisherigen Überlieferungstradition, denn auch in China ist das Fan Huan Gong eine wenig bekannte Methode, die im Gegensatz zu anderen Qigong-Formen in den letzten Jahren nie schriftlich oder per Fernsehen und Video verbreitet wurde.
Die Geschichte des Ba Fan Huan Gong
Die Ursprünge des Fan Huan Gong gehen nach Prof. Cong bis in die Östliche Han-Dynastie (25-220 n. Chr.) zurück. Die Methode wurde anscheinend ohne Unterbrechung bis in unsere Zeit von „Herz zu Herz“ persönlich weitergegeben. Fan Huan Gong besteht , wie viele andere Qigong-Methoden auch, aus 8 bewegten Übungen, die mit zum Teil recht seltsam klingenden Namen an die Tradition des Daoismus erinnern. Doch auch Anklänge zum Buddhismus sind in den Übungstiteln erkennbar!
Das ist allerdings nicht besonders außergewöhnlich, denn in der chinesischen Geistesgeschichte der letzten 2000 Jahre haben Buddhismus, Daoismus und auch die Lehren des Konfuzius immer wieder wechselweise um die Vorherrschaft gerungen; es gab aber auch viele Versuche der gegenseitigen Verschmelzung und Integration.
Besonders im 11. /12. und 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung war letzteres, was man auch als Synkretismus bezeichnet, in China weit verbreitet, vor allem unter den Anhängern der „Schule der Vollkommenen Wirklichkeit“, die eine sehr reine Form des Daoismus vertraten, gepaart mit vielen Elementen aus dem Chan-Buddhismus. Diese Schule, die sich in eine nördliche und südliche Richtung spaltete, brachte eine große Zahl von verwirklichten Meistern hervor, die sich einerseits durch ein starkes Asketentum, andererseits durch sagenumwobene humanitäre Leistungen auszeichneten. Viele Protagonisten – das ist historisch verbürgt – bekämpften den sogenannten „Schlafdämon“, d.h. sie versuchten sich dem Schlafen vollkommen zu entziehen, nahmen an zahlreichen langanhaltenden Fastenzeiten und Meditationen teil, zogen sich wiederholt in entlegene Gegenden zurück, um dort ein äußerst entbehrungsreiches Leben zu führen, was sie oft an den Rand des Todes brachte.
Der Begründer der südlichen Richtung der Schule der Vollkommenen Wirklichkeit Zhang Boduan (Chang Po Tuan) schrieb im 11. Jahrhundert ein fundamentales Werk „Über das Begreifen der Wirklichkeit“ (Wuzhenpian), das seither als Standardwerk der spirituellen Alchemie chinesicher Prägung gilt und das auf einer Stufe mit dem noch älteren Handbuch Cantongqi oder die „Dreifache Einheit“ des daoistischen Gelehrten Wei Boyang (Wei Poyang) aus der Han–Zeit steht. Beide Abhandlungen haben auch heute noch in der daoistischen Literatur einen hervorragenden Ruf!
Zhang Boduan hat unter dem Titel „Das Geheimnis des Goldenen Elixiers“ in 20 kurzen Versen eine vereinfachte und komprimierte Zusammenfassung seines Hauptwerkes hinterlassen. Diese Verse genießen ebenso bis heute große Popularität, und auch Prof. Cong hat in seinen Unterweisungen immer wieder darauf hingewiesen, dass ein echtes Durchdringen der Fan Huan-Methode nur auf dem Hintergrund des Verstehens dieser Texte möglich ist.
Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das ebenfalls aus der Han-Zeit stammende Fan Huan Gong im 11. oder 12. Jahrhundert in Südchina eine ähnliche Wiederbelebung erfuhr wie der alte daoistische Klassikertext Cantongqi aus derselben Epoche. Die Übungsfolge wurde in der Folgezeit weiterhin vollkommen geheim gehalten und nur in einigen daoistischen Klöstern gepflegt, sodass ihre Bedeutung und Wirkung immer nur wenigen Menschen bekannt war. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Li Yufeng der wohl einzige Mensch, der, als Einsiedler im Xuandu-Kloster in den Bergen der Provinz Fujian lebend, die Tradition des Fan Huan verkörperte. Er soll 120 Jahre alt geworden sein!
Sein heute noch lebender Schüler Shen Yue Wu (siehe Bild) hat über 10 Jahre das Kloster- und Einsiedlerleben seines Meisters geteilt und so die Bedeutung und Tiefe der Methode wie kein Zweiter heutzutage erfahren. Prof. Cong lernte Shen Yue Wu auf einer der ersten Qigong-Versammlungen nach der Kulturrevolution Ende der 70iger Jahre in Peking kennen. Ebenfalls aus der Provinz Fuzhou stammend wurde er zum direkten Schüler des gerade aus seinem Versteck in den Bergen Südchinas zurückgekehrten Meisters, der ihn auch von einer schweren Krankheit heilte. Prof. Cong unterrichtete bis zu seiner Emeritierung Qigong an der Medizinischen Fakultät der Universität Fuzhou; und das war auch der Hintergrund, warum Dr. Wenzel bei einer Chinareise der Österreichischen Akupunkturgesellschaft mehr oder weniger zufällig seinem Lehrer an der Universität Fuzhou begegnete. Der Weg des Fan Huan Gong in den Westen war geebnet!
Ba Fan Huan – Die 8 Bewegungen
So exklusiv und verworren die Geschichte des Fan Huan Gong auch sein mag, sie interessierte mich und viele MitschülerInnen anfangs nur am Rande. Es waren vielmehr die Anmut und Ästhetik der 8 Bewegungen, die uns in ihren Bann zogen. Besonders sportlich orientierte und bewegungsbegabte Menschen, Menschen, die aus der Tradition des Tai Chi Chuan oder des Kampfsports kommen, sind schnell fasziniert von der Kraft und Geschmeidigkeit, die in den Übungen des Fan Huan Gong zum Ausdruck kommen. In der 3. Übung hebt beispielsweise der Herrscher Ba einbeinig stehend ein schweres Weihrauchgefäß, in der 6. Übung bändigt der Torwächter Jinggang wie ein Goldener Hahn auf einem Bein stehend den Tiger und in der 8. und letzten Übung wird geradezu akrobatisch im Stehen „geschlafen“, was selbst einen guten Bodenturner noch zum Üben herausfordern könnte.
Alte und kranke Menschen sind angesichts dieser „Qigong-Artistik“ oft entmutigt und abgeschreckt, weil sie glauben das Potenzial für diese Übungen nicht aufbringen zu können. Für sie hält das Fan Huan Gong aber auch weiche, besinnliche und einfach zu vollziehende Bewegungen bereit, Übungsteile, die geradezu meditativ wirken. Fan Huan Gong ist wie in ein gutes Musikstück komponiert, dem ruhigen Anfangsteil folgt ein dynamischerer Hauptteil mit verschiedenen Variationen des Themas und einem Höhepunkt sowie ein sanftes Ausklingen im Schlussteil.
Es bedarf schon gewisser Übung, um den äußerlichen Ablauf der 8 Bewegungen zu beherrschen. Schüler brauchen durchschnittlich ein halbes Jahr regelmäßiger Übung, um mit den Bewegungen einigermaßen vertraut zu sein. Fan Huan Gong ist also keine „Fast-Food-Methode“, die man schnell konsumieren und wirken lassen kann. Es ist eine Übung für das ganze Leben!
Fan Huan Gong hat auch nichts mit dem medizinischem Qigong gemein, das heute in China so lautstark als Neuentwicklung propagiert wird. Es wirkt nicht speziell gegen bestimmte Krankheiten, sondern eher ganzheitlich-vorbeugend, das Qi stärkend und regulierend. Während Qigong heute in China sehr gerne von und für Kranke praktiziert wird, diente es in früheren Zeiten mehr der allgemeinen Lebenspflege und der psychischen und geistigen Vervollkommnung. Fan Huan Gong steht ganz in dieser althergebrachten Tradition, denn der einigermaßen gesunde Mensch ist mit der Aufforderung im Kommentar zur 2. Übung angesprochen, wo es heißt: „Warte nicht ab, bis erst deine Seufzer aus zahnlosem Munde kommen, sondern raffe dich auf zu konsequentem Üben.!“
Natürlich sind bestimmte Übungen des Fan Huan Gong auch therapeutisch einsetzbar, besonders bei Problemen des Stütz- und Bewegungsapparates. Wenn man mit der 4. Übung das „Große Rad der Lehre“ dreht, so hat das nicht nur bei Ischiasbeschwerden eine positive Wirkung, auch Hexenschuß oder Bandscheibenprobleme lassen sich mit diesen Drehbewegungen günstig beeinflussen. Und eine wirkungsvollere Krankengymnastik hätte ich mir nicht ausdenken können, als ich nach einer Meniskusoperation vor Jahren die 3. und 6. Übung aus der Fan Huan-Reihe schwerpunktmäßig übte.
Was bedeutet Rückkehr?
Doch das ist wie schon erwähnt keinesfalls das Hauptanliegen der Fan Huan-Methode. Was ist gemeint, wenn bereits im Titel der Übungsreihe von „Rückkehr“ oder „Umkehr“ die Rede ist? Menschliches Dasein unterliegt normalerweise zeitlichen Konditionierungen, folgt dem Prozess von Schöpfung, Wandlung und Tod. Der gewöhnliche Mensch verbraucht sein genetisches Kapital, das Jing, wie die Chinesen zu sagen pflegen, entsprechend seiner Triebe, er entleert und schwächt sein Qi und zerrüttet seinen Geist, bis das Leben weicht. Der weise Mensch festigt und bewahrt sein Jing, stärkt und pflegt sein Qi und läutert seinen Geist. Fan Huan Gong zielt genau auf diese Umkehr des natürlichen oder biologischen Lebensprozesses. Symbolisch thematisiert wird dies in der 4. Übung, wenn wir das „Rad der Lehre“, das Rad des Lebens, das „Große Mühlrad“ beständig rückwärts drehen. Das soll uns daran erinnern, unsere Essenz wie einen Schatz zu wahren, unser Qi zu stärken und zu vermehren und unser Shen erblühen zu lassen.
Im Wuzhenpian von Zhang Boduan heißt es: „Jing hat die Fähigkeit Qi zu erzeugen, Qi kann Shen hervorbringen! Ist das Jing in Fülle, so wird das Qi stark sein, ist das Qi stark, so blüht das Shen; ein blühendes Shen aber bedeutet Gesundheit für den Körper und nur wenige Krankheiten werden entstehen.“ Der Umkehrprozess beginnt also an der Wurzel, der körperlichen Grundlage. Wenn wir beginnen Fan Huan Gong regelmäßig zu üben, so besteht die erste Stufe der Umwandlung darin, dass wir unsere körperlichen Energien anreichern und konsolidieren. Dies nennt man in der alchemistischen Praxis der Daoisten „das Blei pflücken“. Es dient der Erhaltung der Gesundheit, der Festigung der Essenz, der Stärkung des unteren Dantien und ist somit die Voraussetzung für alle weiteren Stufen des alchemistischen Prozesses.
Viele andere Qigong-Übungsreihen haben das ebenfalls zum Ziel, doch das Fan Huan Gong bleibt nicht auf dieser Stufe stehen. Gewinnt man durch das Praktizieren von Qigong unter normalen Umständen rasch neue Energie, so ist der moderne Mensch leicht in Gefahr, dieses neue Potenzial ebenso schnell wieder anzuzapfen und auszugeben. Man braucht sich in der Qigong-Szene nur umzuschauen, besonders unter den engagierten LehrerInnen, um diesen Mechanismus zu erkennen. Und auch Prof. Cong hob des öfteren kopfschüttelnd den Zeigefinger, um zu erläutern, dass der Sinn und Zweck des Übens von Qigong nicht darin bestehen kann, die neugesammelten Kräfte durch vielfältige Aktivitäten rund um das Qigong gleich wieder auszugeben.
Die Regulation der Gefühle – Die Ruhe des Herzens
Damit sind wir schon auf der zweiten Stufe des Umkehrprozesses angelangt. Es ist die Ebene der Begierden und Emotionen und tangiert unser Herz und das mittlere Dantien. Auf dieser Transformationsebene geht es um die Verbindung des körperlichen Aspektes der Lebenskraft mit einer neuen ethisch-moralischen Ausrichtung. Nicht automatisch steht die körperliche Kraft und Gesundheit eines Menschen in enger Korrespondenz mit der Entfaltung seiner Tugenden. Und es gibt auch eine ganze Reihe von Vertretern in der Qigong-Szene, die behaupten, dass das Erlernen von Qigong mit dieser Art moralischer Erziehung und Menschenbildung nichts zu tun haben soll. Qigong sei keine Veranstaltung von Sekten oder Kirchen, und schon gar keine Ersatzreligion oder Psychotherapie.
Doch selbst ein altes deutsches Sprichwort sagt: „Fühlt sich das Körper wohl, ist auch das Herz weit. Dann blühen Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit!“ Wie gesagt, man hat so seine Zweifel, ob das immer und unmittelbar geschieht, wenn man sich in der Qigong-Szene umschaut! In der alchemistischen Literatur jedenfalls bezeichnet man diesen widersprüchlichen Prozess als „Läuterung des Qi, als Waschen des Marks“.
In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), in der ja das Daoyin Yangsheng oder heutige Qigong immer ein Bestandteil war, kennt man seit altersher den Zusammenhang, dass bestimmte Gefühle das menschliche Qi in besonderer Weise beeinflussen: Zorn und Wut lassen das Qi nach oben steigen, Sorgen und Kummer verknoten das Qi und lassen es stagnieren. Trauer und Depression zersetzen das Qi und lassen es sinken, Nervosität, Unruhe, Hektik und Stress entleeren das Qi, Angst und Furcht verlangsamen den Qi-Fluß, lassen ihn erstarren.
Das Üben von Fan Huan Gong entlässt uns nicht aus diesen Prozessen! Das Leben geht seinen Gang, und nach wie vor werden wir uns z. B. über unfähige und korrupte Politiker ärgern, uns Sorgen um unsere wirtschaftliche Zukunft machen, Angst vor dem Absturz eines in Turbulenzen geratenen Flugzeugs haben oder Stress bei der Organisation eines Qigong-Kongresses erfahren! Und wir werden durch das Üben auch nicht wie von selbst zu keuschen Tugendwächtern, selbstlosen Buddhisten oder gar zu sündenfreien Heiligen, die alle im Kloster oder in einer Höhle landen!
Was sich aber sehr häufig durch das ernsthafte Üben von Fan Huan Gong und natürlich auch anderer Übungsformen ergibt, ist, dass wir mit unseren Instinkten, Trieben, Sehnsüchten und Gefühlen allmählich anderweitig umgehen können, dass wir gelassener werden und alle Emotionen, nicht nur die positiven, akzeptieren. Denn gerade auch die sogenannten negativen Gefühle bereichern unser Leben ungemein und geben uns viel Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit uns selbst. Ist Friede und Ruhe im Herzen, so schafft das eine neue Lebensqualität: Wir brauchen unsere negativen Gefühlsregungen nicht mehr unterdrücken, wenn die Realität nicht dem entspricht, wie sie unserer Meinung nach sein soll; genauso wenig müssen wir ständig dem Verlangen nachjagen, alle unsere Wünsche gnadenlos auszuleben. Wir können das Wechselbad des Lebens, die Variationen der menschlichen Seifenoper entspannter auskosten, unsere Gefühle beobachten, ohne uns mit ihnen zu identifizieren. Wenn wir „Ja“ zum großen „Nein“ der täglichen Widerstände tanzen, dann ist schon viel gewonnen auf dem Weg zum Ursprung.
Die Regulation des Geistes – Das Gedankenpferd
Und damit bewegen wir uns auch schon auf die dritte Transformationsstufe zu. Sie betrifft unsere mentale Einstellung, unserer menschlichen Geist. Er ist normalerweise den ganzen Tag damit beschäftigt irgendwelche Vorstellungen über das Leben, sei es das eigene oder das anderer zu produzieren, die Welt in gut und böse, Erscheinungen in richtig oder falsch zu klassifizieren. Unser Geist ist wie ein kläffendes Hündchen, das nicht aufhören mag zu bellen. Die Chinesen nennen das den „Herz-Affen“ oder das „Gedankenpferd“!
Wenn wir anfangen Qigong zu üben, wird uns dieser rasende „Herzaffe“ oft noch schmerzhafter bewusst als im Alltag; er lenkt uns ab und stört unsere Aufmerksamkeit bei der geistigen Begleitung der Übungen. So kann es sein, dass wir gerade dabei sind, die wunderschönen, dem Tai Chi ähnelnden Bewegungen der 5. Fan Huan Übung auszuführen, aber anstatt an den legendären Meister Pengzu und seinen langen Bart zu denken, beschäftigt sich der Geist mit den Fußballergebnissen des letzten Bundesligaspieltages. Das ist nur ein sehr persönliches und banales Beispiel, aber jeder Übende und Weggenosse wird hundert andere erzählen können. Je nach Temperament und Stimmungslage sind wir dann entweder erheitert, frustriert oder verärgert.
Was ist zu tun? Körperliche Ruhe bewirkt nicht automatisch die Ruhe des Geistes. Im Gegenteil, Meditation und Stille Übungen spülen den ohnehin ständig fließenden Gedankenstrom oft noch vehementer ins Bewusstsein. Und der wohlgemeinte Ratschlag in vielen Qigong-Büchern, die tausend Gedanken durch einen zu ersetzen, verwirklicht sich nicht im Handumdrehen. Denn die herumstreunenden Gedanken lassen sich nicht mit Gedanken oder dem Aufsagen von Zahlen unterdrücken. Wenn man den Geist benutzt, um den Geist zu kontrollieren, so wird man das „Übel“ nur verstärken.
Viele Übende realisieren erst spät, dass das Fan Huan Gong nicht nur die 8 bewegten Übungen, sondern auch Stille Übungen beinhaltet, wie z. B. „Die Harmonisierung des Atems“, „Embryonales Atmen“, „Ursprung des Himmels“ und „Reines Yang“. In dieser Reihenfolge geht es von der Oberfläche fortschreitend zu immer größerer Tiefe. Im Kommentar zur „Harmonisierung des Atems“ heißt es: „Setze dich nieder, lasse alle ablenkenden Gedanken und Wünsche versiegen, das Herz wird ganz still, der Atem ruhig und gleichmäßig, der Blick geht nach innen. Ganz natürlich dringt der Atem ein und steigt unmerklich auf. Das ist des Fan Huan geheimnisvolle Methode!“
Das ist leichter gesagt als getan, denn auch diese Anleitung schafft die genannten Probleme nicht aus der Welt. Die Unbewegtheit des Körpers, die Regulation der Atmung, die Ruhe des Herzens führen nicht wie selbstverständlich zur Stille des Geistes. Dieser ist mit unserer Individualität, unserem Ego verhaftet, und wir haben in der Regel Jahrzehnte daran gearbeitet, dieses Ego vor unserem Bewusstsein aufzubauen. Wenn wir jetzt die Auflösung der Gefühle und Gedanken herbeiführen wollen, dann müssen wir uns auch von Teilen unserer Identität, unserer langgehegten und gepflegten Persönlichkeit verabschieden. Das ist besonders für uns Qigong-LehrerInnen dramatisch, denn wir haben gerade alle mit der neuen Betätigung ein neues Identitätsgefühl mehr oder weniger erst aufgebaut.
Es ist verflixt und zugenäht, geradezu paradox! Unser gehätscheltes Ego, das seiner Natur nach immer etwas tun und verbessern will, steht uns nun massiv im Weg. Natürlich können wir nicht vollständig aus unserer irdischen Identität aussteigen. Selbst wenn wir uns in entlegene Gegenden im Himalaja zurückziehen, sind wir trotzdem in einen irdischen Alltag involviert und unser Geist ist möglicherweise damit beschäftigt, dass der Monsunregen kein Ende nimmt, der Yak-Käse zu trocken und der Buttertee zu ranzig ist, die Erleuchtung nicht so richtig vorankommt und die Lieblingsfußballmannschaft im fernen Europa immer noch nicht Deutscher Meister geworden ist.
Doch wenn wir uns der Zerstreutheit unseres Geistes bewusst werden, so entwickelt sich ein Mechanismus, der zur Beseitigung der Zerstreuung führt. Das was so unendlich schwierig und quälend erscheint, ist im Grunde fast zu leicht und einfach, um wahr zu sein. Wenn wir allmählich und subtil lernen, uns nicht mehr mit dem ewig plappernden kleinen Geist, der alle Aspekte unseres Lebens beherrschen will, zu identifizieren, dann erscheint in uns ein Beobachter, der am Rande unseres Bewusstseins eigentlich schon immer da war. Ein Beobachter, der gelassen und ohne einzugreifen alles registriert, was der urteilende und projektierende Geist und das vermeintlich handelnde Ego so treiben. Anstatt uns von den Schwingungen des Urteilens, Herumbesserns und Widerstehens beherrschen zu lassen, entspannen wir uns und registrieren verwundert, dass sich das Leben ganz von selbst und ohne unseren ruhelosen Geist entfaltet. Nun identifizieren wir uns mit der Präsenz des Beobachters und diese Präsenz wird in unserem Alltag mehr und mehr beherrschen. „Das Leben ist, wie es ist“, es braucht dein Zutun nicht, so lautet die Botschaft an den Geist, der zur Ruhe kommen und in die Stille einkehren kann.
Ich nehme das Leben so wie es ist, und beobachte, wie mein Geist, der früher fast verrückt vor Widerständen wurde, allmählich still wird, fast zu einem Nichts schrumpft. Das schafft die wundersame Situation, trotz aller Probleme des Alltags, im Geist tiefen Frieden zu bewahren, auf das Urteilen und Machen zu verzichten. Mit dieser mentalen Umpolung einher geht ein starkes, liebevolles Gefühl von Ehrfurcht und Dankbarkeit; es ist fast wie eine Erlösung, aus einem Menschen, den der Geist beherrschte, wird langsam und subtil ein Beobachter, der alles verfolgt, was geschieht, ohne sich damit zu identifizieren. Ich bewege mich mitten im Chaos und weiß instinktiv in meinem Wesenskern, dass alles in Ordnung ist. „An nichts in dieser Welt sein Herz hängen, das ist Unsterblichkeit“, das meint auch der Kommentar zur 8. abschließenden Fan Huan-Übung, wo wir akrobatisch einbeinig stehend „Hören und Sehen ohne Wahrzunehmen“, also „Schlafen“.
Der Übergang, die Umkehr auf der 3. Transformationsebene befreit uns darüber hinaus auch von dem Verlangen des Ego, etwas Besonderes zu sein. Statt zum Guru, zu einem auf dem Podest stehenden Meister oder einer Art spiritueller Leuchtrakete zu werden, lautet die Botschaft des mentalen Übergangs: „Werde gewöhnlich“ und „Niemand ist etwas Besonderes“. Und wenn unser Bewusstsein das wirklich durchgearbeitet hat, dann wird unser Geist voller Freude akzeptieren, wie herrlich es ist, zum ersten Mal im Leben ganz normal sein zu dürfen, nicht mehr den Stress zu haben, ständig etwas Herausragendes aus unserer Person machen zu müssen.
Klares Yang – Gipfel- und Talerlebnisse
Die mentale Umkehr, der Übergang auf der 3.Ebene, vollzieht sich in der Halle des Geistes, dem oberen Dantien. Dieser Prozess ist schon immer von vielen Mythen umrankt. Von plötzlichem Erwachen, mystischen Gipfelerlebnissen, von allumfassender Erleuchtung und absoluter Glückseligkeit ist da die Rede, gepaart mit wundersamen Gaben und Kräften, die plötzlich unsere Person durchdringen. Doch diese Gipfelerlebnisse kommen und gehen, wann es ihnen passt, man kann sie nicht herbeirufen und sie bleiben nie. Besonders die begehrteste Erwartung an das Erleuchtetsein, der Zustand der Glückseligkeit, ist launisch wie der Wind. Und die Geschichte kennt keinen Erwachten, der jemals ernsthaft behauptet hat, er habe im Zustand permanenter Glückseligkeit gelebt, ob er nun Jesus, Buddha, Maharishi, Osho oder Franz von Assisi hieß.
Gerade die Geschichte von Jesus oder Buddha zeigen uns, dass ihr Übergang eher einem Tal- als einem Gipfelerlebnis entsprach, das was man als „dunkle Nacht der Seele“ bezeichnen könnte. Jesus war verzweifelt, fühlte sich von seinen Jüngern verlassen und glaubte, Gottvater habe sich von ihm abgewandt. Buddha war zerlumpt und halb verhungert, als er sich unter den Baum der Erleuchtung setzte. Und wenn Suchende heute dieses finstere Tal durchschreiten, dann fühlen sie sich häufig leer und mies, vom gesunden Menschenverstand verlassen, ohne Wertvorstellungen, von spirituellen Lehren und Meistern an der Nase herumgeführt, von Arbeit, Familie und Beruf enttäuscht und den Ablenkungsmanövern der Freizeitangebote angewidert.
Die „dunkle Nacht der Seele“ ist eine kluge Einrichtung! Sie zerbricht langsam wie eine Steinmühle unser Ego, mit dem sich unser Geist bisher so innig identifizierte. Sie zwingt uns still zu werden, denn die Rückkehr, der Übergang vollzieht sich nur, wenn wir längere Zeit still und allein sind und dem leisen Flüstern unseres inneren Beobachters lauschen. Denn so leicht gibt der Geist nicht auf, als dass man einfach nur zu einem Wochenend-Workshop ins Zen-Kloster spazieren könnte, um mal kurz die Verhaftung an die eigene Identität aufzulösen; es ist gegen die Natur des Geistes, still und ruhig zu sein! Und unsere alten Anlagen und Konditionierungen, die vor dem Übergang vorhanden waren, sind auch während und nach dem Übergang immer noch da! Unsere täglichen Probleme verschwinden nicht, sie sind weiterhin das Futter, die Prüfsteine für die Mühle unserer Befreiung, an denen wir genau ausloten können, auf welcher Etappe des Weges wir angelangt sind.
Nicht Anhaften – Stille – In die Leere eintreten
Schon auch Laotse sagte in einem kurzen lapidaren Satz des Tao Te King: „Stille bis zum Äußersten schaffen, vollkommen leer werden!“ Auf einer fortgeschrittenen Ebene des Fan Huan – Übens ist es also nicht mehr so wichtig , irgendeine schöne Bewegung zu machen, sondern es ist wichtig, mit dem Üben in die Stille hineinzukommen, sich immer tiefer von dieser Stille tragen zu lassen. Wenn man gerade das mit der Fan Huan – Methode eine zeitlang übt, so wird man feststellen, dass es da etwas gibt, was einem nach und nach in diese Stille und Leere hineinsaugt. Man kommt an einen Punkt, wo das Bewusstsein regelrecht wie in einer Art Sog von dieser Stille und Leere angezogen wird; das macht manchmal sogar Angst, weil man das Gefühl hat, vollkommen die Kontrolle über sich zu verlieren, weil der Geist quasi wie „betrunken“ in der Gegend herumhängt, weder wach ist noch schläft. Es ist ein ganz archaischer und ursprünglicher Zustand, der aber einem vollkommen mit Kraft erfüllt.
Die Rückkehr zum Ursprung, das in die Leere eintreten, ist vor allem deshalb für unseren Geist so aufregend und spannungsgeladen, weil die Leere eben nicht Nichts ist, sondern ein chaotischer Bereich, in dem es ein wirkliches Durcheinander gibt. Dieses Durcheinander, das hat auch Prof.Cong immer wieder betont, ist für den „Erfolg“ beim Qigong – Üben besonders wichtig, denn aus diesem chaotischen Tohuwabohu heraus strömt die ursprüngliche Lebenskraft in uns hinein und bringt eine Entwicklung zustande, die man bewusst so gar nicht herbeiführen könnte.
Dinge bewusst in Gang zu bringen, handelnd im Qigong etwas zu erreichen, ist etwas, was dem Wesen des Qigong eigentlich entgegenläuft. Wenn ich z. B. eine Krankheit habe und mir sage, ich möchte diese Krankheit mit einer Qigong-Übung wegbringen, dann ist das vom Qigong – Standpunkt aus Unsinn. Vom Qigong – Standpunkt aus geht es darum, dass man ruhig wird, in die Stille geht und die schöpferische, ursprüngliche Lebenskraft in sich wirken lässt. Dann wird man gesund, braucht sich nicht um dieses oder jenes Symptom zu kümmern. Das ist auch mit dem Begriff Wu Wei gemeint, dem Tun im Nichtstun. „Wenn du im Nichttun verharren kannst, entsteht die vollkommene Handlung ganz von selbst“ heißt es im 15. Vers des Tao Te King; und in Vers 23: „Ergib Dich dem Dao und werde eins mit der Quelle“.
Fan Huan Gong ist nicht das einzige, aber in meinen Augen ein besonders wirkungsvolles Übungssystem, um die Rückkehr zur Quelle, zum Ursprung, zum Dao zu vollziehen, den Weg der Transformationen zu beschreiten. Dass es darum in erster Linie geht, wird schon in der ersten, einleitenden Bewegung klar, wo wir den Atem und somit auch das Qi ganz behutsam durch die drei Dantien bis zum Scheiteltor hinausführen: Vor dem unteren Dantien sammeln wir in einer runden Kreisbewegung das Qi ein, bewahren das Jing und vermehren das Qi, vor dem mittleren Dantien öffnet die Bewegung der Arme unsere Brustmitte, und damit unser Herz, und vor dem oberen Dantien deuten wir mit einem kleinen Kreis der Hände die Umorientierung unseres Bewusstseins an.
Dieser Bewegungsablauf ist wie eine Art Initiationsritus, der uns tagtäglich die Richtung des eingeschlagenen Weges beschreibt. Eingebunden in eine klösterliche Kultur, nicht zuletzt vergleichbar mit der Geschichte und Tradition des Shaolin-Klosters, hat Fan Huan Gong eine vermittelnde Position zwischen der Praxis der Meditation und der Pflege des Kampfsports in der Vergangenheit eingenommen. Das wird am Charakter und Inhalt der einzelnen Übungen immer wieder sichtbar!
Halten wir fest: Es ist ein besonders Geschenk, dass Fan Huan Gong, welches sich jahrhundertelang in daoistichen Klöstern Südchinas versteckte, in unserer Zeit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich geworden ist. Waren es bisher nur wenige Auserwählte, die sich mit dem Fan Huan Gong auf die Rückkehr begaben und den Weg zum Ursprung suchten, so sind es heute Zehntausende, die diesen Übergang anstreben. Warum das so ist, wissen wir nicht. Es scheint eine Laune der Quelle zu sein, dass sie jetzt und heute eine Vielzahl von Suchenden mit einem Kraftfeld beeinflusst, den Prozess der Umkehr, der Verwirklichung zu vollziehen. Wer in diesen Prozess hineingerät, sollte nicht vergessen seinen Wegbereitern dankbar zu sein!
Walter Gutheinz