Die Stillen Übungen des Ba Fan Huan Gong

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Die Stillen Übungen des Ba Fan Huan Gong

Teil 1 & 2

von Walter Gutheinz

Einleitung

Vielen Übenden der Fan Huan-Methode ist die Existenz und Bedeutung der Stillen Übungen des Fan Huan Gong nur teilweise oder überhaupt nicht bewußt. Das ist umso bedauerlicher, weil es gerade die Stillen Übungen sind, die das eigentliche Anliegen der Fan Huan Methode zur Geltung bringen:

„Die Reise, die Rückkehr zum Ursprung“.

Mit dem regelmäßigen Üben der acht bewegten Übungen des Fan Huan Gong entwickelt sich jedoch nach und nach – so meine Erfahrung – ein tiefes Bedürfnis nach Ruhe nicht nur für den Körper, sondern auch für Herz und Geist. Das Interesse an Übungen des Stillen und Meditativen Qigong und der Inneren Alchemie wächst quasi wie von selbst. Die starken und kraftvollen äußeren Bewegungen erzeugen langfristig mehr und mehr innere Bewegungen, verstärken und verfeinern den Qi-Fluss, erhöhen unsere Achtsamkeit, klären und beruhigen unseren Geist.

Erinnern wir uns: Nicht ohne Sinn ist die achte und letzte bewegte Übung des Fan Huan Gong, die sogenannte Schlafübung, XiYi, einem daoistischen Meister aus der Zeit der fünf Dynastien, gewidmet: Sehen und Hören ohne wertende Wahrnehmung, an nichts auf der Welt sein Herz hängen, sich von Wünschen und Anhaftungen zu befreien ist der seelisch-geistige Hintergrund des dramatischen und anspruchsvollen äußeren Übungsablaufes. Inmitten schwieriger äußerer Bewegung meditative Ruhe und innere Gelassenheit zu zelebrieren, ist bereits eine Schlüsselqualifikation für den Übergang zu den Stillen Übungen des Fan Huan Gong . Die Vorgabe, Ruhe in die äußere Bewegung zu bringen, verwandelt sich so in die Praxis, innere Bewegung in der äußerlichen Ruhe entstehen zu lassen.

In dem uns von Prof. Cong zur Verfügung gestellten Übungstext zum Fan Huan Gong ist von vier Stillen Übungen die Rede, deren Praktizieren fortschreitend von der Oberfläche zu immer größerer Tiefe führen kann und soll. Im Text werden genannt:

  1. Die Harmonisierung des Atems
  2. Das Embryonale Atmen
  3. Der Ursprung des Himmels
  4. Das Klare Yang

Der Text gibt leider nur einige wenige Hinweise zur Praxis der Harmonisierung des Atems und zur Technik des Embryonalen Atmens. Ursprung des Himmels und klares Yang werden nicht weiter erläutert. Das macht allerdings in meinen Augen auch Sinn, handelt es sich doch bei den ersten beiden Übungen noch um einzuübende, erlernbare Atemtechniken, währenddessen der Ursprung des Himmels und das Klare Yang nicht erübt, sondern nur erfahren werden kann. Letzteres entzieht sich deshalb logischerweise einer allgemeinen Übungsanleitung, da Erfahrungen im Stillen Qigong keinem bestimmten Muster folgen, sich ereignen, also immer spontan, ungeplant und individuell gemacht werden.

Teil 1

1. Die Harmonisierung des Atems (Tiao Xi Gong)

Grundsätzlich kann man unter den vielen Übungen des Stillen Qigong drei Methoden unterscheiden:

  • Das Beobachten und Harmonisieren des Atems,
  • Die Ausrichtung des Geistes auf ein Objekt oder eine Person und/oder
  • Die Rezitation eines Mantras.

Klar ersichtlich arbeiten die ersten beiden Übungen des Stillen Fan Huan Gong mit dem Atem.

Im Übungsgedicht zur ersten Übung heißt es: „Setze dich still nieder, lasse alle Gedanken und Wünsche versiegen. Mit konzentriertem Geist den Atem regulieren, den Blick nach innen richten. Das ist des Fan Huan geheimnisvolle Methode. Ganz natürlich dringt der Atem ein und transportiert das Qi des Himmels.“

Zweifelsohne wird in diesem Text auf das allseits bekannte Übungsprinzip der drei Regulationen verwiesen: Die Regulation von Körper, Atem und Geist. Die Einahme einer unbewegten Körperhaltung, das Richten der Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Atmens und die Beruhigung des Geistes sind die Eckpfeiler dieser stillen Übungspraxis. Je achtsamer man dem Atem gegenüber wird, umso mehr beruhigt sich der Geist. Die meist in der Zukunft oder Vergangenheit herumvagabundierenden Gedanken werden gefiltert und somit gezähmt. Das achtsame Atmen bringt uns immer wieder in die Gegenwart, in den Augenblick.

In der Anfangszeit der bewegten Qigong-Übungspraxis wird diese Regulierung und Schulung der Atmung allerdings aus didaktischen Gründen nicht empfohlen. In der Regel soll die Atmung nicht willentlich beeinflusst werden, sondern zwangslos fließen: Gleichmäßig, leise und lautlos, ruhig und langsam. Im Normalfall wird durch die Nase ein- und ausgeatmet. Oft bilden sich beim Üben spontane Atemmuster aus: Hebende Bewegungen werden durch das Einatmen, senkende Bewegungen mit dem Ausatmen begleitet.

Mit fortschreitender Übungspraxis verlagert sich der Schwerpunkt der Atmung von der Brust in den Bauchraum. Die verbesserte Flexibilität des Zwerchfells bewirkt, dass die Atembewegung im Bereich des Bauches spürbar größer wird.

Natürliche Bauchatmung (Dantian-Atmung)

Im Gegensatz zum üblichen Anfängerdiskurs wird in der stillen Übungspraxis des Fan Huan Gong die natürliche Bauchatmung bewußt eingesetzt und trainiert. Das Zwerchfell dehnt sich beim Einatmen durch die Nase aus und sinkt in den Bauchraum. Der Bauch wölbt sich dadurch leicht nach vorne, die Lunge im Brustbereich kann sich ausdehnen und Qi und Luftsauerstoff aufnehmen. Mit zunehmender Übungsintensität wird die Ausdehnung des Bauchraumes nicht nur im Vorderbauch sondern auch in den Flanken und im unteren Rücken spürbar. Die gesteigerte Atmungsaktivtät im unteren Rücken ist hierbei ein wichtiges Indiz für eine effektive Übungspraxis. Beim Ausatmen wiederum entspannt sich das Zwerchfell, geht in seine Ausgangsstellung zurück. Die Lunge wird dabei zusammengepresst, verbrauchte Luft und mit ihr trübes Qi kann entweichen. Unterstützend bei dieser Atemtechnik ist die Vorstellung eines goldenen Qi-Balles im Bauchraum. Dieser dehnt sich beim Einatmen aus und sinkt in sich zusammen beim Ausatmen. Die natürliche Bauchatmung stärkt das untere Dantien, vitalisiert unsere Mitte.

Umgekehrte Bauchatmung (Nieren-Atmung)

Wie bei der natürlichen Bauchatmung senkt sich das Zwerchfell beim Einatmen in den Bauchraum, mit dem Unterschied, dass der Bauch diesmal sanft eingezogen wird. Dadurch entsteht eine gewisse Kompression im Bauchraum, ein erhöhter Druck auf alle unterhalb des Zwerchfells liegenden Bauchorgane. Besonders spürbar wird der Druck im Bereich der Nieren. Man hat das Gefühl, als würde man seine Nieren ergreifen. Deshalb spricht man auch gerne hier von Nierenatmung. Beim Ausatmen entspannt sich der Bauchraum wieder, das Zwerchfell geht in seine Ausgangslage zurück. Daraus entsteht eine allgemeine Druckentlastung. Hat die normale Bauchatmung positive Auswirkungen auf die Sammlung und Bewahrung des Qi im unteren Dantien (s.o.) so wirkt die umgekehrte Bauchatmung eher dynamisierend auf den Fluß des Qi. Mit dem Einatmen zentriert sich das Qi im Bauchraum um sich beim Ausatmen in alle Richtungen auszubreiten. Qi kann hier aber auch mit der Vorstellungskraft gezielt im Körper gelenkt werden, so z.B. beim Üben des „Kleinen Himmlischen Kreislaufs“, wo mit Hilfe der Beckenboden/Steißbein-Pumpe und der umgekehrten Atmung das Qi im Lenkergefäß innerhalb des Wirbelsäulenkanals nach oben und im Konzeptionsgefäß nach unten geführt wird.

Die Umstellung von der normalen auf die umgekehrte Bauchatmung ist für manche Übende ein nicht ganz einfach zu bewältigender Lernprozess, den man auch nicht besonders forcieren sollte. Mit fortschreitender Übungspraxis stellt sich die natürliche Bachatmung jedoch oft wie von selbst auf die Gegenbauch-Atmung um, und natürlich auch umgekehrt.

Körperatmung (Porenatmung)

Obwohl auch unsere Haut real atmet, ist die hier vorgestellte Atemtechnik eher ein virtueller Vorgang. Zusätzlich zu der oben beschriebenen paradoxen Bauchatmung liegt bei der Körperatmung der Schwerpunkt auf der Vorstellung, dass durch die Poren der Haut eingeatmet wird. Die Atmung durch Nase oder Mund findet zwar weiterhin statt, doch sie ist fein und wenig spürbar, ein Geschehen im Hintergrund. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Vorstellung, dass sich sämtliche Poren auf der Hautoberfläche beim Einatmen wie kleine Lippen nach außen öffnen und Luft und Qi ansaugen. Die Imagination des Ansaugens wird dabei durch die Gegenbauchatmung noch verstärkt. Beim Ausatmen lässt man dann das angesaugte Qi wieder im Körper frei fließen. Der Rhythmus der Gegenbauchatmung ist ruhig und langsam und von keinerlei Anspannung begleitet. Das angesaugte kosmische Qi kann man sich auch als farbiges Licht vorstellen, wobei die Farbe blau für das universelle Qi steht. Die virtuelle Körperatmung ist eine effektive Methode Qi im Körper anzureichern, die die Effekte der normalen und umgekehrten Bauchatmung immens verstärken. Gelegentlich wird von der Möglichkeit berichtet, dass durch diese Aufnahme von kosmischen Qi der Energiehaushalt des Körpers so gut versorgt ist, das eine weitere Energiezufuhr, zum Beispiel in Form von Nahrung, unnötig wird. Die Adepten befinden sich im sogenannten „BiGu-Zustand“, ein nicht unumstrittenes Phänomen.

Intervallatmung (Schildkrötenatmung)

Ganz spontan und natürlich entstehen beim ruhigen Üben der Bauchatmung Atempausen, häufig bevorzugt nach dem Ausatmen. Zu Beginn der meditativen Übungspraxis sind diese Pausen oft sehr kurz und unregelmäßig, später jedoch immer länger und kontinuierlicher. In der Theorie des Qigong herrscht die Auffassung vor, dass die Pause nach dem Ausatmen die Yin-Funktionen im Körper, die Pause nach dem Einatmen die Yang-Funktionen stärkt und unterstützt. Der Schwerpunkt der Pausen kann also auch regulativ, je nach Zustand, vorkommen oder gehandhabt werden. Wie auch immer, die Reduktion der Atemfrequenz sollte jedoch auf keinen Fall forciert werden. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang vor einer übereifrigen Praxis gewarnt, weil dadurch der Organismus überlastet wird, innere Unruhe sich ausbreitet, Atemnot, Herzrasen und Bluthochdruck die Folge sind. Die Intervallatmung wird auch gerne als „Schildkrötenatmung“ bezeichnet, da die alten Daoisten der Meinung waren, dass Schildkröten dergestalt mit langen Atempausen atmen und deshalb im Tierreich das längste Lebensalter erreichen. Auf diesem Hintergrund wird die Intervallatmung auch häufig als die „Atmung der Unsterblichen“ bezeichnet.

2. Die Embryonale Atmung (Tai Xi Gong)

gilt als die „hohe Schule“ der meditativen Atemtechnik. Oft wird sie mit der gerade beschriebenen „Schildkrötenatmung“ auf eine Stufe gestellt oder manchmal sogar gleichgesetzt. Embryonales Atmen wird nur möglich, wenn die zuvor geschilderten Atemtechniken auf einem hohen Niveau praktiziert werden. Im Übungsgedicht heißt es: „Diese magische Übung basiert auf dem Wirken von Qian (Himmel) und Kun (Erde)“ , also den in sich harmonischen Kräften des Vorhimmels. „Wenn du sie nur immerzu übst, wirst du auch noch im hohen Alter das Aussehen eines jungen Menschen haben“.

Das embryonale Atmen erinnert an das von den Daoisten als perfekt verstande Kindstadium im Mutterleib, wo keine äußerliche Lungenatmung stattfindet, der Fetus über die Nabelschnur mit Sauerstoff und kosmischem Qi der Mutter versorgt wird. Auch hier gilt, wie schon bei der Schildkrötenatmung postuliert, der Grundsatz, dass die äußere Atmung des Praktizierenden nicht völlig eingestellt werden kann. Aber sie ist so langsam, mühelos und leicht, dass sie wie angehalten erscheint. Die feinen pulsierenden Atembewegungen der Rippen und des Zwerchfells sind kaum noch wahrnehmbar. Der Atem scheint ganz im Inneren zu verweilen.

Das Qi aus dem Universum dringt während der Embryonalatmung kontinuierlich in den Körper ein, man fühlt sich quasi wie mit einer Nabelschnur mit dem atmenden Kosmos verbunden. Beim Ausatmen ist die ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet das eingeatmete Qi im Körper zu bewahren und im unteren und/oder im mittleren Dantien zu speichern. Das unaufhörliche Eindringen des universalen Qi macht sich in Form von Wärme und Licht bemerkbar. Die Manifestation einer glänzenden, beweglichen Perle im Brustbereich ist das Ergebnis der stetigen Anreicherung des Lichts. Damit einher geht zumeist die Öffnung des Himmelsauges im Stirnbereich zwischen den Augenbrauen, wodurch der geschaffene Licht-/Geistkörper erst erfahrbar wird.

Mit dem embryonalen Atmen wird so quasi ein neues Selbst geboren, der sogenannte „Dantien-Embryo“, im mittleren Dantien erzeugt, im unteren Dantien gewärmt und ausgebrütet und im oberen Dantien schließlich erwacht. Die geistige Geburt dieses Inneren Kindes ist der Schlüssel für die spirituelle Entwicklung eines jeden Menschen, das Samenkorn der Weisheit und Unsterblichkeit. Körper und Geist sind fortan ruhig und gelassen, das Herz ist offen und heiter. Das ist die Grundlage für die darauf folgende Übung „Ursprung des Himmels“.

Teil 2

3. Der Ursprung des Himmels

Die oben vorgestellten Atemübungen und -techniken dienen in erster Linie der Schulung unserer Aufmerksamkeit. Das Lenken der Aufmerksamkeit auf das Atmen hat dabei eher einen konzentrativen „Yang-Charakter“. Mit der Übung Ursprung des Himmels geraten wir nun in eine eher rezeptive Yin-Phase, wo es mehr um Erfahren und Erleben als um aktives Handeln und Lenken geht.

Lange Zeit habe ich über den Hintersinn des Übungstitels gerätselt und auch keine schlüssige Erklärung von irgendjemand erhalten. Außerdem existiert auch kein Übungsgedicht zum Thema! Soll man sich unter Ursprung des Himmels den kosmischen Urknall, die Entstehung unseres Universums vorstellen? Soll man der Tatsache huldigen, dass sich alle Materie – ob organische oder anorganische – aus demselben Sternenstaub gebildet hat, und wir alle, die gesamte Menschheit Sternenkinder sind. Allerhand Spekulationen lassen sich zum Thema anstellen.

Schaut man sich den Himmel an, und die Daoisten haben der Naturbeobachtung immer breiten Raum eingeräumt, so erlebt man zwei Phänomene: Den blanken Himmel und die Wolken. Die Wolken kommen und gehen, der Himmel geht nicht, ist immer da. Wolken sind manchmal da, manchmal nicht, sie sind ein Zeitphänomen, etwas Vorübergehendes. Der Himmel jedoch ist eine zeitlose Erscheinung,er ist von Dauer. Es gibt also zwei Dimensionen des Daseins am Himmel und eben nicht nur dort: Etwas ist wie der Himmel oder etwas ist wie die Wolke.

Gerne habe ich als Kind im Gras gelegen und Wolken beobachtet. Sie sind manchmal weiß wie Zuckerwatte und bilden phantasievolle Formen. Sie können aber auch dunkel und abgründig sein. Manchmal sind sie voller Regen, manchmal leer. Manchmal bringen sie der Erde großen Segen, manchmal richten sie großen Schaden durch Überschwemmungen an. Der Himmel aber bleibt immerzu der gleiche, er ist weder gut noch schlecht, weder nützlich noch gefährlich. Die Wolken können dem Himmel nichts anhaben, können ihn nicht verletzen. Auch nach dem heftigsten Gewitter ist der Himmel wieder rein und unbefleckt, keine Spur bleibt zurück.

Unsere Gedanken, Gefühle, Handlungen sind wie Wolken, sie kommen und gehen, ziehen vorüber. Unser Wesenskern, unser inneres Sein ist aber wie der Himmel. Wenn man den inneren Kern seines Wesens im Auge hat, dann beobachtet man seinen eigenen Himmel. Diese Art von Bewußtheit geschieht normalerweise nur manchmal, in seltenen Augenblicken für ein paar Sekunden, wo der Himmel wolkenfrei und der Zustand des Nichtdenkens eintritt. Plötzlich ist kein einziger Gedanke, kein einziges Gefühl mehr da. Der Himmel ist reingefegt von Wolken und die Sonne – das „Klare Yang“ – leuchtet hell.

Normalerweise ist unser Ego so von Gedanken, Wünschen, ehrgeizigen Zielen und Träumen umnebelt, dass der ursprüngliche Himmel und die Sonne nicht erfahren werden kann. Jeder Wunsch, jede Fantasie und die daraus entstehenden Handlungen sind eine Wolke, und man muss erst wolkenlos werden, um den ursprünglichen Himmel zu erkennen.

Der unerbittliche Anspruch jedweder Art von Meditation ist also einen „Zustand des Nichtdenkens“ herzustellen, und das bei vollem Bewußtsein, bei strahlend klarem Bewußtsein. Erst wenn sich keine Gedanken, keine Gefühle mehr regen ist der Himmel rein und wolkenlos.

Nur durch das „Fasten des Geistes“ erleben wir also den Ursprung des Himmels. Dieser Vorgang kann sich einerseits spontan ereignen, andererseits ist es in der Regel ein stufenförmig verlaufender Prozess. In der Abhandlung über „Das Sitzen in Vergessenheit“ von Sima Chengzhen, entnommen aus dem Buch von Livia Kohn „Die 7 Stufen der daoistischen Meditation“, ist von 5 Phasen der geistigen Kultivierung die Rede. Der Geist hat:

  1. Viel Aufregung und wenig Ruhe
  2. Aufregung und Ruhe sind ausgewogen
  3. Viel Ruhe und nur wenig Aufregung
  4. Ruhe in Zeiten der Muße. Rückkehr zur Aufregung bei Geschäftigkeit
  5. Keinerlei Aufregung, auch nicht bei Geschäftigkeit. Höchste Stille.

Wichtig hierbei ist der Hinweis, dass es nicht darum gehen kann, die stetig aufsteigenden Gedanken gewaltsam anhalten zu wollen. Es macht überhaupt keinen Sinn, die Gedanken mit einer Art Gedankenkontrolle zu eliminieren. Durch entschlossenes Wollen das Denken aufzuhalten, setzt uns nur unter Spannung und Handlungsdruck und erzeugt im Extremfall eine Art geistige Verstopfung. Gedanken treten aus dem Nichts hervor, kommen und gehen, und statt sie zu bekämpfen sollten wir sie einfach gehen lassen.

Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung, die seit einigen Jahren zu diesem Thema in die Öffentlichkeit gelangt sind. Die beiden Neurobiologen Niels Birbaumer und Jörg Zittlau stellen in ihrem Buch mit dem Titel „Denken wird überschätzt/Warum unser Gehirn die Leere liebt“ klar, dass unser Gehirn auch ein Organ ist, das gerne gedankenlos ist und sich bestens auf den Leere-Modus einstellen kann. Die Gedankenleere macht unserem „Oberstübchen“ also nicht nur Stress oder gar Angst, sie zieht uns auch zuweilen unwiderstehlich an. Unser Gehirn verfügt demnach über einen ausgesprochenen „Leere-Mechanismus“. Dann feuern die Neuronen im langsamen Hirnwellenbereich und im Zwischenhirn schließt der Thalamus seine Pforten, sodass weniger und schließlich gar keine Reize in die oberen, für die bewußte Wahrnehmung zuständigen Hirnareale gelangen.

Wenn es still wird im Kopf übernehmen bei entsprechenden Rahmenbedingungen die langsamen Thetawellen die Regie. Dann sind unsere Sinne nahezu beschäftigungslos. Dieser „Leere-Flow“ im Gehirn entsteht aber nicht nur durch eine nachhaltige und hingebungsvolle meditative Praxis, auch Musik, Tanz, Ausdauersport und sogar Sex können das Gehirn in die heilsame Leere bringen. Und manche Menschen sind sogar beim Bügeln oder Kartoffelschälen in der Lage den ewigen Gedankenstrom abzuschalten. Die Art der Aktion spielt also nicht unbedingt eine Rolle, um das Gehirn in den langsamen Wellenmodus zu synchronisieren.

Doch die Leere im Gehirn ist nicht nur ein reines Abschalten. Es können auch neue Reize entstehen. Aus dem Ozean der niederfrequenten Theta-Hirnwellen können sich hochfrequente Wellenspitzen, die sogenannten Gamma-Wellen, herausbilden. Wenn diese Gamma-Wellen unser Gehirn großflächig durchfluten, ist das vermutlich die physiologische Grundlage für das, was im Buddhismus als absolute Achtsamkeit bezeichnet und im Qigong als Ursprungsgeist verstanden wird. Dann sind im Gehirn nicht mehr Gedanken und Gefühle im Umlauf. sondern Einsichten vorherrschend. Das „Klare Yang“ tritt in Erscheinung.

4. Klares Yang

Das Aufkommen veränderter Bewußtseinszustände, oft auch als Erwachen oder Erleuchtung umschrieben, kann zweifelsohne nicht willentlich hergestellt werden. In der Regel sind sich ereignende „Erweckungserscheinungen“ auch nur von kurzer Dauer. Das klare Yang des Himmels zeigt sich uns Menschen als plötzliche und unerwartete Offenbarung und ist stets mit dem Stillstand des diskursiven Denkens verbunden. Zumeist ist dieser Bewußtseinszustand mit „positiven“ Stimmungen verbunden, sei es grenzenlose Freude und tiefer Frieden oder ein Gefühl allumfassender Liebe. Viele Mythen und Legenden werden in diesem Zusammenhang kolportiert.

Doch eigentlich lassen sich diesbezügliche Erfahrungen nicht mit Worten beschreiben und schon gar nicht rational erklären. Der Geist des Himmels, das Klare Yang, offenbart sich zumeist in Paradoxien, die sich unserem Alltagsgeist in der Regel nicht erschließen. Nur unser „Herz-Geist“ scheint zeitweilig eine Antenne für die Botschaften des Himmels zu haben und macht uns dessen Eingebungen erfahrbar.

Betrachten wir diese Phänomene einmal aus Sicht der daoistischen Naturphilosophie, so wird hier stets zwischen einem persönlich-menschlichen und einem universellen Geist differenziert. Letzterer wird auch oft als Yuan Shen, gleich Ursprungsgeist, als Geist des DAO oder als „Wahres Wissen“ umschrieben. Sein Wirken ist für uns Menschen besonders stark in Naturphänomenen spürbar. Auch die altgriechische Auffassung einer Art Weltvernunft – tituliert als „Logos“ – oder der von Hegel postulierte „Weltgeist“ fröhnen einem ähnlichen Konzept.

Persönliches Wissen ist immer nur begrenzt und relativ. Wahres, universelles Wissen dagegen ist allumfassend und meist verborgen. In der daoistischen Alchemie ist der Vogel Phoenix das Tiersymbol für das geläuterte personale Bewußtsein. Wie allen gefiederten Zeitgenossen wird auch dem Phoenix eine gewisse Flatterhaftigkeit nachgesagt, was auch unserem personalen Bewußtsein zueigen ist. Und mit dem Metall Quecksilber, das nicht nur giftig sondern auch flüchtig ist, eröffnet sich eine weitere Analogie für das Wirken und Funktionieren unseres individuellen Geistes.

Die Schildkröte mit ihrem schützenden Panzer steht andererseits für das Klare Yang, den universellen Geist. Das „Wahre Wissen“ ist unter ihrem Panzer verborgen und verschleiert. Nur zuweilen und unter gewissen Umständen offenbart es sich. Wie glänzendes Blei im dunklen Wasser versteckt sich auch das Klare Yang, der Ursprungsgeist und wartet darauf erkannt und entdeckt zu werden, was einem Akt der Gnade gleich kommt: „Denn nicht Du findest die Erleuchtung, sondern die Erleuchtung findet dich.“

Doch was passiert genau, wenn jemand plötzlich und oft unvorbereitet die Erfahrung des Erwachens macht? Schwirren Lichtblitze durch den Kopf oder erstrahlt die Aura in allen denkbaren Glücksfarben? Fühlt man stilles Glück in der Leichtigkeit des Seins? Dann erscheint die Erweckung wie der Gewinn einer Trophäe. Sie verspricht Befreiung von Schmerz und Leid, das Ende aller Probleme und vielleicht auch übernatürliche Kräfte was natürlich die neidvolle Bewunderung aller Freunde auslöst. Und was dann? Ändert sich das Leben oder geht es immer noch weiter wie bisher? Zu Letzterem hat der Zen-Buddhismus übrigens eine klare Antwort: „Vor der Erleuchtung Holz hacken und danach weiter Holz hacken.“

Die Offenbarung von „Wahrem Wissen“ ist, wie schon oben erwähnt, meist mit gewissen Eingebungen und daraus resultierenden Einsichten verbunden. Eine fundamentale Erfahrung, die in diesem Zusammenhang immer wieder kolportiert wird, ist die der „Unio mystica“, das Erlebnis des Alleinsseins, das Gefühl der Verbundenheit, des Nichtgetrenntseins von den Subjekten und Objekten der Außenwelt. Diese Erfahrung, dass alles eins ist, geht einher mit der Auflösung jeglichen „Ich-Gefühls“. Die Aufspaltung in eine Person und eine von ihr getrennte Außenwelt ist aufgehoben in einem Zustand der „Non-Dualität“.

Das hat Konsequenzen! Alle Dinge vereinen sich zu einem einzigen Ganzen. Man fühlt sich eins mit seinen Mitmenschen und der Natur. Kein Platz mehr für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Und als Teil der Natur muss der erwachte Mensch die Natur nicht mehr beherrschen und aufs gröbste ausbeuten, sondern liebevoll und sorgsam mit ihr kooperieren. Viele Gegensätze und Widersprüche, die das normale Alltagsbewusstsein kennzeichnen, scheinen sich aufzulösen. Ohne die Existenz eines „Ich“, einer Person, gibt es auch keine individuelle Vergangenheit oder Zukunft mehr, alles verschmelzt zu einer Einheit in der Gegenwart: Alles ist, wie es ist.

Eine noch stärkere Attacke auf unser Ich-Bewußtsein jedoch ist die Einsicht in die Vergänglichkeit und Leere aller Dinge. Leben und Tod, Werden und Vergehen sind ein grundlegendes Wirkprinzip in unserer Welt. Gerne wird diese Einsicht in unserem Alltagsbewußtsein angstvoll verdrängt oder ignoriert. Das denkende Bewußtsein kann und will sich seine eigene Auslöschung einfach nicht vorstellen. Deshalb entwickelt es viele Strategien, Religionen und Heilslehren über seinen eigenen Fortbestand nach dem Tod. Auch Generationen unserer daoistischen Vorfahren haben sich an diesem Thema abgearbeitet.

In den meisten eschatologisch ausgerichteten Heilslehren geht es beim Thema „Leben nach dem Tod“ immer irgendwie um Belohnung für ein gutes Leben – was auch immer darunter verstanden wird – und um Strafe für ein Leben voller Missetaten. Die christlich-jüdische Religion stellt dafür entweder himmlische Freuden oder grausame Höllenqualen in Aussicht; entscheidend für die Zuteilung ist die Rechtssprechung des Jüngsten Gerichts. Einmal gefällte Urteile gelten immer ewig, also lebenslänglich. Fehlurteile und Revisionen sind nicht vorgesehen.

Die überzeugendste und verlockendste aller Geschichten über das postmortale „Ich-Leben“ ist aber sicherlich die buddhistisch-hinduistische Lehre von Karma und Wiedergeburt. Die Karma-Geschichte besagt, dass jede unserer Handlungen entsprechende Reaktionen auf unserem „Karma-Konto“ erzeugt. Das gefällt unserem Verstand mit seinem Sinn für Gerechtigkeit besonders gut. Und in Verbindung mit der Wiedergeburtstheorie gibt es auch eine Erklärung dafür, warum es im gegenwärtigen Leben den „Bösen“ oft so gut geht, während viele „Unschuldige“ leiden müssen. Denn wenn es einem Missetäter in diesem Leben trotzdem gut geht, so wird er in seinem nächsten Leben zu leiden haben, wenn er nämlich vielleicht in der Gosse wiedergeboren wird. Umgekehrt wenn unserer Güte und Selbstlosigkeit in diesem Leben keine Anerkennung zuteil wird und sie keine Früchte trägt, dann winkt zumindest eine günstige Wiedergeburt und am Ende das Nirwana. Das ist großartig und für den menschlichen Verstand äußerst befriedigend!

Die Idee von Karma und Wiedergeburt entspringt dem Glauben an ein vom menschlichen Willen gelenktes Schicksal. Aus der Perspektive des Wahren Wissens, dem Klaren Yang, ist ein solches willentliches Handeln jedoch völlig unmöglich. Körper und persönlicher Geist entstehen aus dem Nichts und werden mit dem Tod wieder in das Nichts, in die Leere, eingehen. Die Auslöschung des Personalen, der Tod des Ichs, kann deshalb in bestimmter Hinsicht nur als „Katastrophe“ gesehen werden, besonders für Menschen auf der Suche nach spirtueller Verwirklichung und persönlicher Selbstoptimierung. All das, was in diesem Zusammenhang als wichtig erscheint, die Hoffnung auf persönliches Glück und Selbstvervollkommnung, löst sich beim Tod der Person in Luft auf. Die spirituelle Suche nach tiefer Ruhe und Gelassenheit, die fortschreitende Läuterung von Körper und Geist ist im erwachten, vom „Klaren Yang“ offenbarten Bewußtsein absurd und völlig sinnlos. Wenn sich unsere Ich-Struktur so oder so auflöst – entweder durch die Gnade des Erwachens oder aber spätestens mit dem physischen Tod – dann gibt es eigentlich auch keinen Grund weiterhin an ihr herumzudoktern.

Die Einsicht in die Vergänglichkeit allen Seins ist radikal und persönlich schwer zu ertragen. Das Verschwinden der Person mitten im Leben ist ein kleiner Tod, der den großen Tod am Lebensende vorweg nimmt. Vieles von dem, was unser Verstand als ein für allemal zu unserer Person zugehörig gesehen hat, entfällt plötzlich: Hoffnungen und Erwartungen, Wünsche und Ziele, diverse Erinnerungen und wohlig vertraute Neurosen verschwinden. Der Glaube an eine exklusive Person, an ihren Sinn und ihre Bedeutung ist nicht mehr da. Die Überzeugung meiner Wichtigkeit – auch als Qigong-Lehrer – kommt zu Fall, persönlicher Erfolg oder Misserfolg sind bedeutungslos. Das kann auch sehr erleichternd sein, wenn wir niemandem mehr etwas beweisen müssen, die Bühne der Selbstdarstellung geschlossen wird.

Fassen wir zusammen: Die Unio Mystica, das Erlebnis des Alleinseins und die Einsicht in die Vergänglichkeit und Leere aller weltlichen Dinge sind nur zwei von vielen möglichen Botschaften, die uns der Ursprungsgeist zuteil werden lässt.

Weitere Übermittlungen sind nicht ausgeschlossen, da jede Person ihr Erwachen spezifisch als einzigartigen Prozess erfährt, es keine festgeschriebenen Muster gibt. Eine dezidierte Suche nach dem „Klaren Yang“, dem wahren Wissen, wird jedoch nichts einbringen. Erleuchtung oder besser Erwachen kann man sich nicht verdienen. Man kann gar nicht so gut meditieren, so entschlossen rackern, so rechtschaffen und aufrichtig werden, dass sie einem zustände. Alles Suchen und Streben nach dem Erleuchtetsein ist sinnlos. Erwachen geschieht oder es geschieht eben nicht. Warum das so ist, bleibt so lange unbegreiflich, bis niemand mehr da ist, der es begreifen will.