Den Bambus-Vorhang öffnen

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Den Bambus-Vorhang öffnen

Auf der Suche nach dem verborgenen Yin in den acht Übungen des Fan Huan Gong

Abschlussarbeit der Ausbildung zur Qigong-Lehrerin der Deutschen Qigong- Gesellschaft e.V.  in Berlin vom April 2018.

Von Silke Buttgereit 2018

Meine Entdeckung von Yin und Yang

Im Laufe unserer vierjährigen Ausbildung zur Qigong-Lehrerin hat mich die Frage nach den Definitionen von Yin und Yang immer wieder beschäftigt. Ich empfinde dieses polare Modell tatsächlich als befreiendes Denkmodell. Gut und schlecht, richtig und falsch werden durch die Idee von Yin und Yang relativiert. Wenn ein jedes Ding seinen polaren Gegenpart benötigt, um sein zu können, werden Bewertungen immer sinnloser. Yin und Yang kann Gelassenheit lehren. Gleichzeitig sind Yin und Yang immer in Bewegung, sie verändern sich und die Welt ständig. Gleichzeit gewinnt durch Yin und Yang die Veränderung einen zyklischen Charakter, unsere lineares westliches Weltbild wird in seiner Zwangläufigkeit entkräftet. Yin und Yang haben mich Empathie und Gelassenheit im Umgang mit mir und meiner Welt neu entdecken lassen.

Dabei habe ich keinesfalls den Eindruck, das Thema ganz durchdrungen zu haben. Was Yin und was Yang ist, wie das eine aus dem anderen entsteht oder auch nicht, wie das eine mehr betont werden kann, wo doch, wo das eine ist, immer auch das andere schon da ist – Yin und Yang lassen noch viele Fragen bei mir offen.

Same Old Story?

Und da gab es einen Punkt, der mir keine Ruhe ließ: Die Zuschreibung von weiblich=Yin und männlich=Yang. Zwar wurde sie in unserer Ausbildung immer vermieden, taucht aber in jedem Text, klassisch oder modern unweigerlich auf.

Ich empfinde bei dieser Zuschreibung ein Unbehagen. Zu vieles in dieser Zuordnung erinnert an Geschlechter-Klischees, wie sie weltweit existieren und zur Unterdrückung von Frauen eingesetzt werden. Als Literaturwissenschaftlerin mit feministischem Schwerpunkt habe ich gelernt, dass die Zuschreibung von Merkmalen die Geschlechter überhaupt erst schafft. Biologie mag eine Tatsache sein, das soziale Geschlecht ist menschlich konstruiert und erfunden.

Und dann fand ich in den Zuschreibungen von Yin und Yang eben diese Zuschreibungen wieder, die ich längst als Unterdrückungsinstrument männlich dominierter und hierarchisch strukturierter Gesellschaften entlarvt hatte. Körper und Geist, schwach und stark, Erde und Himmel, Gefühl und Verstand. Sind Yin und Yang doch nur alter Wein in chinesisch-exotisch angemalten Schläuchen?

Frauen und Gedöns

Auch Bücher über ein weiblicheres Qigong oder Lotus-Qigong halfen mir nicht wirklich weiter, weil sie das Weibliche zwar sehr positiv betonen und viele Yin-Aspekte in bewegtem und stillem Qigong herausarbeiten.

Und braucht es wirklich ein Lotus-Qigong? Das Frauen-Suffix kann anfangs helfen, bringt aber am Ende nicht wirklich weiter. Dann gibt es Fußball und Frauen-Fußball, Literatur und Frauen-Bücher, Wissenschaft und Frauen-Forschung – also richtigen Fußball und solchen, den Frauen spielen, echte Literatur und Gedöns, echte Wissenschaft und solche mit minderwertigem Gegenstand, Qigong und Lotus-Qigong. Auch Männer-Fußball, Männer-Bücher und Männer-Forschung und Bambus-Qigong sind keine Lösung.

Es geht um eine Öffnung und Erweiterung aus der ein ganz Neues entsteht, das weder das eine, noch das andere ist, sondern alle Aspekte, männlich, weiblich und alles, was dazwischen und daneben liegen könnte, berücksichtigt.

Den Bambus-Vorhang öffnen

Denn Übungen für Frauen und Übungen für Männer machen vielleicht manchmal Sinn, aber eigentlich kann es nicht darum gehen, Lotus und Bambus getrennt zu kultivieren. Stattdessen sollten wir den Bambus-Vorhang öffnen und schauen, was dem über Jahrtausende vor allem von Männern tradierte Qigong verloren gegangen ist. Gibt es Wege, vergessene und verlorene Traditionen von Bewegten Übungen und spiritueller Praxis zu integrieren? Das Modell von Yin und Yang ist – so lassen alte Schöpfungsmythen vermuten – älter als die patriarchale Gesellschaftsordnung Chinas. Kann Yin und Yang als übergreifendes und noch einmal ganz neu betrachtetes Modell ein Weg zu einem kompletteren Qigong sein?

„Den Bambus-Vorhang öffnen“ ist nicht nur eine Metapher für die Öffnung des kommunistischen Chinas in Richtung Westen und Kapitalismus. Der Ausdruck ist aus dem Taijiquan entlehnt, wo es in vielen Stilen die Bewegung „Den Bambusvorhang öffnen“ gibt – in deren Folge „die Nadel auf dem Meeresboden gesucht wird“.

Mit dieser Arbeit möchte ich ein wenig hinter den Bambus-Vorhang schauen und Fundstücke vom Meeresboden, dem verborgenden Yin, heben. Ich habe mir die Ba Fan Huan Gong vorgenommen und geschaut, wie da beim Üben das Yin mehr betont und die Übung dadurch positiv verändert werden kann.

Vorher aber möchte ich noch ein paar Gedanken zum in Schräglage geratenen Gleichgewicht von Yin und Yang im Blick auf weiblich und männlich formulieren.

Yin und Yang – gegensätzlich aber gleichwertig?

Schöpfungsmythen

Anthropologie und Geschichte haben inzwischen für die meisten Kulturen nachgewiesen, dass ihre Ursprünge in matriarchalischen Wurzeln liegen. Die frühe Menschheit betete Muttergottheiten an. Weibliche Fruchtbarkeit wurde als Grundlage der Menschheit betrachtet. Viel weiß man nicht über die Struktur und Bräuche dieser Gesellschaften, aber die Analyse gefundener Gräber und Kultgegenstände legt nahe, dass matriarchalische Gesellschaften von einer Gleichwertigkeit von Mann und Frau ausgingen.

Das Wissen über diese Gesellschaften ist nicht nur verschüttet und verloren gegangen – wo Spuren davon zu erkennen sind, werden sie übersehen und weginterpretiert. Ich bin keine Sinologin, sondern in einer christlich-abendländischen Kultur aufgewachsen, daher werden ich diesen Prozess am biblischen Schöpfungsmythos unserer westlichen Kultur verdeutlichen.

Wer an die Schöpfungsgeschichte der Bibel aus dem ersten Buch Mose denkt, assoziiert wahrscheinlich Adam und Eva und die Geschichte der Rippe Adams, aus dem Eva ihm als Gehilfin geschaffen wurde.

Tatsächlich geht dieser Erzählung eine andere voran. In der ersten Geschichte wird erzählt, wie Gott in fünf Tagen die Welt erschuf und am sechsten Tag den Menschen – und er erschuf sie erstens zu seinem Ebenbild und zweitens als Mann und Frau. Dahinter und darüber erst schiebt sich die Geschichte vom Garten Eden, dem einsamen Mann-Menschen, dem nächtlich eine Rippe entnommen wurde, um daraus eine Frau zu schaffen. Tatsächlich sind hier zwei Texte ineinander verschränkt, die sich teils widersprechen. Im ersten Text heißt es, der Mensch möge sich die Welt und die Tiere untertan machen – eine Aussage, auf die sich seit Jahrtausenden Menschen berufen, wenn sie Natur und Tierwelt missachten und zerstören. In der zweiten Geschichte hingegen wird der Mensch lediglich aufgefordert, den Tieren Namen zu geben. [1]

Manipulierte Erinnerung

In unserem Jahrhunderte alten kollektiven und von den Autoritäten Kirche und Schule maßgeblich beeinflussten Gedächtnis wird vor allem die Rippe Adams und die Unterwerfung der Erde erinnert. So wurden beide Geschichten beschnitten, verändert und miteinander verwoben.

Veränderte Realitäten verändern auch Erzählungen und schleifen sie ab, lassen neue Erzählungen entstehen. Teile gehen verloren und Schwerpunkte werden verschoben. Die geschieht umso mehr, wenn Mythen und Ideologien aufeinanderstoßen. Dann werden Mythen so zensiert, dass sie sich in die Leitsätze von Gesellschaften und Herrschaftsformen einfügen.

Die Kirche und alle christlichen Gesellschaften hatten ein ideologisches Interesse daran, die Erzählungen von Rippen-Schöpfung, Sündenfall und gottgegebener Überlegenheit des Menschen über die Natur zu erzählen. Dafür wurden die Erzählstränge von der Gleichwertigkeit von Mann und Frau und das Natur-Sein des Menschen verschwiegen und überlesen.

Was hat das alles mit Yin und Yang und Fan Huan Gong zu tun?
Die biblische Schöpfungsgeschichte ist ein wunderbares Beispiel für die Tilgung vor-patriarchaler Mythen aus dem kollektiven Gedächtnis. Das Verschwinden weiblicher Protagonistinnen und nicht-patriarchaler Narrative betrifft jedoch nicht nur Mythen und Erzählungen, sondern auch jede andere Form menschlicher Kultur und Überlieferung. Das betrifft Kunst, Handwerk, Landwirtschaft, Wissenschaft, Medizin – und eben auch Bewegungsformen wie Taijiquan und Qigong.

Man geht heute davon aus, dass die Ursprünge des Qigong in Ritualen schamanischer und wohl auch matrilinearer Gesellschaften liegen. Nachgewiesen sind die Ursprünge seit der Han-Dynastie (ab 206 v.Chr.), spätestens seit dem Grabtuch aus dem Grab des Königs Ma von ca. 170 v.Chr.

Die Überlieferung der Ba Fan Huan Gong dauert wohl seit knapp 2000 Jahren an. Sicherlich haben die Übungen noch viel ältere Formen in sich aufgenommen und wurden erst langsam kanonisiert und als feste Form vermittelt.

Und natürlich wurde die Form seitdem transformiert, verändert, Bedürfnissen angepasst, vielleicht wurden Übungen umbenannt, Interpretationen und Akzente verändert.

Meister/innen sind auch nur Menschen

Jede Übung verändert den Menschen, der sie übt und der jeder übende Mensch verändert die Übung.

Qigong, Qigong-Übende und Qigong-Meister stehen nicht außerhalb der Welt. Auch sie werden geprägt vom politischen und gesellschaftlichen Kontext, von geschichtlichen Entwicklungen, Tabus und Befreiungen. Von Ideologien und Dynastien. Und die chinesische Geschichte der letzten Jahrtausende ist geprägt von der Verdrängung alter schamanischer und matrilinearer, später auch daoistischer Weltbilder zugunsten konfuzianischer Vorstellungen von Welt und Mensch. Die Frau spielt darin eine untergeordnete Rolle – das gilt auch noch im heutigen China.

Wie im eingangs beschriebenen jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos wurde auch in China die Vorstellung einer Gleichwertigkeit von Frau und Mann schon in grauen Vorzeiten der Idee der Überlegenheit des Mannes geopfert. Erzählungen und Mythen wurden seitdem entsprechend umgewandelt, abgeschliffen, andere verworfen und vergessen.

Yin und Yang erhielten in diesem Prozess die Zuordnung von männlich und weiblich im Sinne der Zuweisung von Geschlechter-Merkmalen. So wurden weiblich und männlich mit Begriffen wie leise und laut, unten und oben, weich und hart, passiv und aktiv assoziiert. In dieser festgeschriebenen Paarung konnte oder musste sogar das Weibliche dem Männlichen unterlegen gesehen werden. Aus einem polaren, flexiblen Denkmodell wurde in der gesellschaftlichen und politischen Übertragung ein starres und damit hierarchisches Denkmuster. Allmählich wurde das Yin als Weibliches dem Yang als Männliches untergeordnet. Als sei das Yin nur die notwendige Bedingung des Yang, die es zu überwinden gilt um zum hellen klaren Yang zu gelangen.

Eine Gesellschaft kann nicht Frauen real abwerten, unterdrücken und verdrängen und gleichzeitig die mit männlich und weiblich assoziierten Begriffe von Yin und Yang als völlig gleichwertig betrachten. Es gibt keine von der Realität losgelöste reine Lehre. Ein Mann, der Frauen verachtet, wird nicht das als weiblich assoziierte in sich begrüßen und pflegen[2]. Eine Frau, die sich als minderwertig erfährt, wird ihre Yang-Aspekte nicht frei wahrnehmen und leben. Eine Gesellschaft, die Frauen unterdrückt, muss das Yin abwerten und wird Yin und Yang nicht wertfrei betrachten.

Daher rührte das Unbehagen, das die Theorie von Yin und Yang für mich transportierte.

Risse, Ritzen und Rituale

Allerdings gibt es in allen patriarchal-hierarchisch strukturierten Gesellschaften Risse, durch die archaisch Unbewusstes, so genanntes Weibliches, so genanntes Mütterliches, anarchisch matrilineare Traditionen sichtbar werden. Zu finden sind diese oft in Mythen und Märchen, in Orakeln wie dem I Ging, aber auch in Ritualen und vor allen Dingen in nicht-sprachlicher Überlieferung.

Was sich der Sprache und Beschreibung entzieht, entzieht sich leichter der Kontrolle durch Autoritäten und Gesetze. Denn Gesetze sind in Sprache gegossene Autorität und wichtiges Instrument der Macht. Anarchische, nicht-sprachliche Spuren – das können Tänze sein, religiöse Gesten wie das Räuchern mit Weihrauch oder das bekreuzigen mit Weihwasser, Fasching und Fastnacht, österliche Rituale, Ostereier, Maibaum und Weihnachtsbaum. Aber auch das Vertrauen auf Intuition, unerklärliches Wissen, das sich in Träumen offenbart, Vorahnungen und Erinnerungen an nie erlebte Zeiten, das alles sind Spuren schamanischer naturorientierter Gesellschaftsformen, die sich weltweit auf unterschiedlichste Art erkennbar geblieben sind.

Qigong als Trojanisches Pferd

Auch Qigong-Übungen sind eine Form der nicht-sprachlichen Überlieferung. In der Qigong-Überlieferung könnten zumindest Bruchstücke uralten und archaischen Wissens über Natur, Leben und Tod enthalten sein.

Meine These ist, dass Qigong-Bewegungsformen zum Teil die Gleichwertigkeit und gegenseitige Bedingtheit von Yin und Yang bergen, die im Konfuzianismus und späteren chinesischen Gesellschaftsformen verloren gegangen sind. Qigong-Übungen haben sich als nicht-sprachliche Ausdrucksform ein Stück weit der Abwertung des Weiblichen zum Steigbügelhalter des himmlisch-aufstrebenden Männlichen entzogen.

Ich sage zum Teil und ein Stück weit, weil auch Qigong-Übungen von den geschilderten gesellschaftlichen Prozessen verändert und den herrschenden Ideologien angepasst wurden. Wie gesagt sind auch Qigong-Übende und Qigong-Meister Menschen ihrer Zeit und geprägt von deren Ideologien und Überzeugungen.

Qigong-Übungen wären demnach beides: Sie sind einerseits geprägt vom Zeitgeist und waren damit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen immer unterworfen. Aber gleichzeitig sind sie auch trojanisches Pferd, das verlorenes Wissen, Heilkräfte und verdrängte menschliche Seelenanteile durch Jahrhunderte und Jahrtausende transportiert hat. In der Qigong-Praxis – und nur auf diesem Weg – kann sich die Übende dieses Wissen, diese Kräfte und Seelenanteile erschließen.

Ich bin mir bewusst, dass ich hier ein Feld der Spekulation betrete. Der Prozess der Verdrängung und Abwertung des Weiblichen aus der Geschichte ist jedoch ein kulturübergreifendes und weltweites Phänomen. Feministische Fragestellungen, die seit den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in Wissenschaft und Forschung Einzug gehalten haben, haben dies hinreichend belegt.

Rettet das Yin!

Allerdings stellt sich die Frage, wie das von mir behauptete verborgene Wissen im Übungsprozess freigelegt werden kann. Tatsächlich glaube ich, dass ein Schlüssel dafür die Entdeckung und Erforschung von Yin-Aspekten in Übungen ist.

Natürlich kann Yin nicht mit weiblich und Yang nicht mit männlich gleichgesetzt werden. Dennoch ist genau das in der chinesischen Tradition – und nicht nur da – immer wieder geschehen. Gleichzeitig ist die Herabsetzung des Weiblichen ist die Bedingung sine qua für Hierarchie und Ungleichheit.[3] Und wenn Weiblichkeit (als biologisches und soziales Geschlecht) erstens eindeutig dem Yin zugeordnet ist und zweitens prinzipiell als das unterlegene Prinzip betrachtet wird, hat das zwangsläufig eine Unterordnung des Yin unter das Yang zur Folge. Das elementare daoistische Prinzip der polaren Balance ist dann ausgehebelt.

Die Abwertung des Yin hat Qigong-Überlieferung wie gesagt sicherlich nicht gänzlich Halt gemacht. Der Weg zum verborgenen archaischen Wissen im Qigong führt also über die Pflege des Yin als wertvolles und gleichwertiges, dem Yang gleichgestelltes Prinzip.

Das mag trivial klingen, weil der Yin-Yang-Ausgleich allemal ein wichtiges Ziel des Qigong-Weges ist. Es ist aber nicht trivial, sondern per se subversiv.

Es heißt, sich entgegen verbreiteter Wertvorstellungen und eigener in Körper und Geist eingeschriebener Glaubenssätze auf das Yin einlassen und das Yin zulassen. Es heißt, Qigong-Übungen neu anzuschauen, eigene Bewegungsmuster zu hinterfragen und Vorstellungen von richtig und falsch auch physisch loszulassen. Darin liegt ein enormes Veränderungspotenzial, das weit über die Qigong-Praxis hinausgeht.[4]

Es kann auch bedeuten, die eine oder andere Übung abzuwandeln.

Yin und Yang – kurzgefasst

In der daoistischen Philosophie sind Yin und Yang die Zweiheit, die aus dem Einen, dem Dao entsteht. Das Dao selbst ist der Ursprung, das Unerklärliche, das Paradoxe, das vor dem Sein schon ist. Es kann nicht beschrieben oder vermittelt werden, es ist vorsprachlich und übersprachlich. Mit Yin und Yang entsteht überhaupt erst das Sein, das Universum, die Welt. Yin und Yang sind zwei Pole, maximal voneinander entfernt. Zwischen Yin und Yang entsteht Energie, entsteht Qi, entsteht Bewegung, entstehen die Dinge und das Leben. Die Energie zwischen Yin und Yang bringt die beiden Pole selbst in Bewegung, so dass das Gegensätzliche nicht starr bleibt, sondern fließt, sich umkehrt und interchangiert. Yin und Yang ist mehrdimensional, immer gegensätzlich, aber gleichzeitig ineinander übergehend, immer da, aber ständig anders.

Im Qigong sind Yin und Yang grundsätzliche Bewegungsrichtungen zugeordnet, die sich an den acht Leitkriterien von Yin und Yang in der TCM orientieren:

Sinken – Steigen, Öffnen – Schließen, Vorne – Hinten, Rechts – links.

Yin und Yang sind neben dem Begriff des Qi die wichtigste Größe im Qigong, auf die sich alle Übungen beziehen. Der Ausgleich von Yin und Yang ist Ziel aller Bewegungen, Übungen und Übungsreihen. Das gilt auch für Übungen des Stillen Qigong.

Das Wechselspiel von Yin und Yang ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Qi im Körper fließt. Ist der Mensch gesund, sind Yin und Yang ausgeglichen, es gibt keine Fülle oder Leere, die das Qi staut, ansammelt oder blockiert.

Yin und Yang sind komplementär, hängen voneinander ab, kontrollieren sich gegenseitig und gehen zugleich ineinander über. Das eine kann ohne das andere nicht sein.

Yin und Yang in jedem Augenblick einer Bewegung

Jede Bewegung ist schon an sich ein Zusammenspiel von Yin und Yang. Die Physis des Menschen ist so angelegt, dass an jeder Bewegung sowohl Beuger- als auch Strecker-Muskeln beteiligt sind. Yin und Yang. Entspannt sich der eine, arbeitet der andere. Tun und Nicht-Tun. Yin und Yang. Dieses Prinzip spiegelt sich bis in die basalen Neuronengeflechte, so genannte Interneuronen wider, die Signale für die Bewegung von Muskeln auslösen.

Hebe ich den Arm, folgt auch diese Bewegung den Prinzipien von Beugen und Strecken. Ohne die Dichotomie von Beugen und Strecken ist keine Bewegung möglich. Jede Bewegung ist an sich Yin und Yang.

Stelle ich mir eine Bewegung als Film vor, kann ich diesen an jeder beliebigen Stelle anhalten. Jedes einzelne Standbild wird mit immer eine vollkommene Ausgeglichenheit von Yin und Yang zeigen.

Yin und Yang in Bewegungsphasen

Ich hebe nochmals den Arm. Dieses Mal betrachte ich diese Bewegung als Ganzes, die Bewegung von unten nach oben über den gesamten Zeitraum hinweg. Yang. Und nun? Entweder halte ich den Arm oben, komme also in einen Zustand ohne Bewegung, oder ich lasse ihn wieder sinken. Ruhe oder Sinken – beides ist Yin. Gleichgültig also, ob ich das Kriterium Bewegung/Nicht-Bewegung oder Steigen/Sinken ansetze – auf ein Yang folgt ein Yin und umgekehrt.

Ein Skifahrer, der den Berg herunterfährt, muss ihn vorher bestiegen haben – auch wenn es der Lift war, der ihn transportiert hat.

Es gibt kein Entrinnen auf Yin und Yang und am Ende werden beide immer im Gleichgewicht sein. Ob der oder die Übende ebenso im Gleichgewicht ist, kann sie mit ihrer Übungspraxis beeinflussen. Eine Bewegung, deren Endposition der Anfangsposition entspricht, kann immer so ausgeführt werden, dass Yin und Yang im Gleichgewicht sind.

Nicht nur die Welt, auch Yin und Yang sind eine Kugel.

Dass Yin und Yang immer nur relativ verstanden werden können, bedeutet auch, dass es keine festgelegten Pole, sondern eher kreisförmig angeordnete Begriffspaare gibt. Dreht man das Rad, gelangen immer wieder andere Begriffe an den höchsten Punkt, die die jeweilige Situation bzw. Sicht der Dinge bezeichnen. Was oben ist, kann demnach zu einem anderen Zeitpunkt auch unten sein, was jetzt gerade wichtig ist, weicht im nächsten Moment einem anderen Aspekt.

Diese Beschreibung von Yin und Yang bleibt aber immer noch unzulänglich. Weiter oben habe ich erklärt, dass es unterschiedliche Aspekte und Kategorien gibt, unter denen Yin und Yang angeschaut werden kann. Wird ein beliebiges Standbild einer Qigong-Bewegung betrachtet, wird man darin immer ein ausgeglichenes Yin und Yang finden. Betrachtet man die ganze Bewegung, kann sie dennoch nur eines von beiden, Yin oder Yang sein.

Gleichzeitig kann eine regulierende Bewegung im Ganzen Yin-Yang ausgeglichen sein. Hebe ich beide Arme mit nach unten zeigenden Handflächen, bekommt die steigende Yang-Bewegung einen Yin-Aspekt. Hebe ich beide Arme und sinke dabei in den Beinen, regulieren sich Yin und Yang unter Umständen und bleiben während der gesamten Bewegung im Gleichgewicht.

In der achten Fan Huang Gong Übung steht man auf einem Bein und schwebt mit dem zweiten Bein und dem Oberkörper waagerecht in der Luft. Einbeiniges Schweben hat einen sehr starken Yang-Aspekt. Tatsächlich ahmt das Schweben aber eine schlafende Position in großer Ruhe nach, die Vorderseite des Körpers (Yin) schaut zur Erde (Yin).

Atmen hat Yin- und Yang-Qualitäten zugleich. Beim Einatmen wird die Luft nach innen und unten geführt, Luft wird aufgenommen (Yin). Gleichzeitig dehnt sich der Brustkorb und das Zwerchfell (Yang). Beim Ausatmen wird Luft nach außen abgegeben (Yang), Zwerchfell und Brustkorb ziehen sich zusammen (Yang).

Im Taiji ist jede Energie Yang oder Yin – und wandelt sich auf dem Weg vom einen Sparring-Partner zur anderen vom einen zum anderen. Wer Energie gibt, sendet Energie von seinem Zentrum nach außen, also Yang-Energie. Wer die Energie aufnimmt, nimmt eine Energie, die von außen zum Zentrum zielt auf, also eine Yin-Energie.

Gesundheit ist ein Gleichgewicht von Yin und Yang. Ein Ziel des Qigong-Weges ist es, Yin und Yang in sich in ein ausgewogenes Gleichgewicht zu bringen. Treffen zwei Menschen aufeinander, wird mit großer Sicherheit einer in der Beziehung eher den Yang-Aspekt präsentieren, der andere den Yin-Aspekt. Und ist es eine lebendige Beziehung, wird es möglich sein, die Rollen auch einmal zu wechseln.

Yin und Yang haben also viele Dimensionen – sie können auf einer zweidimensionalen Schiene oder im dreidimensionalen Raum betrachtet werden. Auch die Dimension der Zeit spielt eine Rolle und alle Dimensionen können sich noch mit äußeren Faktoren mischen oder durch innere Faktoren verändert werden.

Die Darstellung des zweidimensionalen Kreises, den die Monade zunächst darzustellen scheint, reicht also nicht aus. Vielmehr muss die Monade als Kugel gedacht werden, die sich in allen Dimensionen bewegt. Die Aspekte von Yin und Yang sind immer gegenwärtig, manifestieren sich ständig. Und sie manifestieren sich ständig anders.

Yin und Yang sind eine drehende Kugel – und in dieser Bewegung vollziehen sich die Wunder.

Ba Fan Huang Gong

Das gilt auch für die Fan Huan Gong Übungen, denen nachgesagt wird, sie seien Yang-lastig. Jedem Steigen in den Übungen steht ein Sinken gegenüber, jedem Öffnen ein Schließen, die Übende am Ende immer zum Ausgangspunkt zurückkehrt.

Eine Lösung der Yang-lastigkeit liegt also darin, die Yin-Elemente, das Sinken, das Schließen, das Sammeln und Verdichten in den Übungen zu entdecken und zu betonen. Die Vorstellungskraft Yi auf das Yin zu lenken und das dadurch erlebbarer zu machen.

Ich möchte in dieser Arbeit einen Blick auf die Ba Fan Huan Gong Übungen werfen und einerseits die Bewegungen und Momente mit starkem Yin-Asprekt in allen Übungen aufspüren. So kann ich eine Bewegung besonders betonen, z.B. langsamer ausführen oder mit der Vorstellungskraft Yi das Yin durch Bilder und Vorstellungen verstärken.

Andererseits mache ich an einigen Stellen Vorschläge, wie eine Übung abgewandelt werden kann, damit der Yin-Aspekt mehr Raum bekommt.

Zuerst möchte ich anschauen, wie es zu der angeblichen Yang-Betonung der Übungen kommt.

Die Amplitude der Bewegungen

Fan Huan Gong ist eine Übungsreihe mit großen Bewegungen, die im Hinblick auf den Mittelpunkt des Körpers oft eine maximale Ausdehnung haben. Und es ist eine Übungsreihe, in der sich die Übende in alle sechs Richtungen maximal ausdehnt: oben, unten, links, rechts, hinten, vorne.

Ausdehnung hat per se eher Yang-Charakter. Die sich ausdehnende Bewegung ist dabei dem Element Holz zugeordnet (kleines Yang), der Augenblick der maximalen Ausdehnung ist ein starker Feuer-Moment (großes Yang).

Im Gegensatz zu Übungen mit einer kleineren Bewegungsamplitude wie beispielsweise dem ersten Teil der 18 Bewegungen des Taiji-Qigong, dem Yuan Ming Gong wohnt den Übungen also an sich ein großes Yang inne.

Physische Herausforderung

Ein anderer Aspekt ist die sportliche Herausforderung, die die Durchführung der Übungen mit sich bringt.

Die Ba Fan Huan Gong Übungen verlangen von der Praktizierenden sportliche Fähigkeiten. Langes Stehen auf einem Bein, tiefes Stehen im breiten Stand, extremes Sinken und Schöpfen, Öffnung der Leiste für extreme Seitschritte, Beugung der Wirbelsäule nach hinten, Stehen in der Standwaage samt Drehung des Bauchnabels nach oben – all das erfordert eine gewisse sportliche Verfasstheit. Ohne einen guten bis sehr guten Gleichgewichtssinn, Beweglichkeit der Hüfte und der Wirbelsäule, gut trainierte Beine sind die Übungen nicht so leicht zu erlernen.

Stehen auf einem Bein

In der dritten, der fünften, sechsten und achten Übung wird – in immer neuen Varianten – auf einem Bein gestanden. Der Boden unter den Füßen wird also zur Hälfte verlassen, das zweite Bein schwebt in der Luft. Das ist eine Herausforderung an den Gleichgewichtssinn und das Abheben scheint erst einmal eine starke Yang-Qualität zu sein. Die Übende orientiert sich zum Himmel und lockert die Verbindung zur Erde.

Betrachtet man die Einbein-Übungen und darin wiederum bestimmte Momente isoliert, trifft das zu. Betrachtet man aber alle Ba Fan Huan Gong, wird dem Abheben jeweils eine starke Verwurzelung entgegen gestellt. Und auch in jeder Übung, davon bin ich überzeugt, kann ein Yin-Yang-Gleichgewicht hergestellt werden, wenn das Yin in den Übungen bewusst gepflegt und betont wird.

Yin-Betonung beim Üben der Ba Fan Huan Gong

  1. Yin-Aspekte betonen
    Jede der Übungen hat auch starke Yin-Aspekte oder bietet Momente, in denen das Yin stärker herausgearbeitet werden kann.
    Weiter unten schaue ich mir jede Übung unter diesem Aspekt an und gebe Hinweise für ein stärkeres Yin-Üben
  2. Nach der Bewegung in die Ruhe treten.
    Zum Kanon der Übungen gehören auch Stillen Übungen. Nach den bewegten Übungen sollte immer, wenn möglich, für eine gewisse Zeit in die Ruhe getreten werden. Die erste Stille Übung „Regulierung des Atems“ bietet sich dabei im Alltag besonders an.
  3. Das Yang sinnvoll nutzen – Üben am Morgen
    Da Fan Huan Gong eine für Muskeln, Sehnen und Kreislauf eine fordernde Übung sind, würde ich empfehlen, sie eher am Morgen zu Üben. Da kann das freigesetzte Yang passend zur Tageszeit am besten genutzt werden und die Aufgaben des Tages unterstützen. Die Übungen vitalisieren und stärken die Konzentrationsfähigkeit, machen den Kopf frei, weil sie einen lebendigen Qi-Fluss im Körper anregen. Aber auch hier würde ich nach dem Üben einen Moment der Stille auch beim morgendlichen Üben empfehlen.
  4. Üben der körperlich herausfordernden Passagen
    Das Lernen der Übungen fordert eine gewisse Zeit. In der Lernphase geht es um körperliche Abläufe, um die Verbesserung der Beweglichkeit und des Gleichgewichtsinns. Gerade bei den Übungen im Einbein-Stand ist die Aufmerksamkeit erst einmal mit dem Halten des Gleichgewichts beschäftigt. In allen acht Übungen gibt es viele Details zu beachten, die Haltung der Hände, die Stellung der Füße, der genaue Ablauf und die Koordination der Gliedmaßen. Das fesselt die Konzentration und macht es fast unmöglich, sich auf den Qi-Fluss, den Ausgleich von Yin und Yang und die Pflege der Meridiane, die Passtore und Eintrittstore zu konzentrieren, bzw. all dem nachzuspüren.Für mich haben sich regelmäßige Gleichgewichtsübungen und Übungen für die Öffnung der Leiste und Beweglichkeit der Hüfte dafür bewährt. So fällt mir das Stehen auf einem Bein auch in anspruchsvollen Übungspassagen immer leichter und die seitlichen Drehungen wurden immer selbstverständlicher.
  5. Konzentration auf einzelne Übungen
    Gute Erfahrungen habe ich auch mit dem isolierten Üben einzelner Übungen gemacht. Dabei habe ich die jeweilige Übung zehnmal oder zwanzigmal wiederholt. Das hilft enorm den Bewegungsablauf so selbstverständlich werden zu lassen, dass Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft das Qi leiten und die Wirkung der Übung spürbar wird. Dabei habe ich auch mit Bewegungsvarianten experimentiert und konnte die Übung im Idealfall irgendwann einfach geschehen lassen und so wesentlich mehr Yin in der jeweiligen Übung pflegen.Auch zwei Übungen herauszugreifen kann sehr erhellend sein, so hat sich mir z.B. der komplementäre Bezug zwischen der siebten und der achten Übung erst erschlossen, als ich die beiden abwechselnd mehrmals hintereinander geübt habe.

Yin in den Ba Fan Huan Gong

1. Übung Ein Qi, drei Dantien (Yi Qi San Qing)

Die Übung führt durch die drei Dantien. Durch den mehrfachen Bezug zur Erde, das Öffnen und Schließen von HuiYin hat die Übung zunächst einen starken Yin-Aspekt.

Im Öffnen des Herzfächerst sind Yin und Yang ausgeglichen, wenn das Dritte Dantien, BaiHui geöffnet wird, gibt es durch das Streben des gesamten Körpers und die weit in den Himmel hinein gestreckten Arme, unterstützt durch das Verlassen des Bodens auf den Zehenspitzen einen sehr starken Yang-Aspekt.

Die Herausforderung der Übung besteht darin, am Ende der Übung Yin und Yang wieder zu vereinigen, dem Yin seine Anteile zurückzugeben und nicht in den Himmel abzuheben.

Yin-Hinweise

  • Kontakt zur Erde über Yongquan vor dem Beginnen. Verbindung zur Erde auch über Huiyin aufnehmen
  • Streichen über die Erde
  • Den Kreis auf der Erde zeichnen, auf den man steht. Aus diesem Ort, der Erden-Heimat schöpfen
  • Fingerkuppen zu Yintang führen=Erde und Himmel verbinden und die Mitte finden
  • Schläfen mit Laogong bestrahlen und mit der Vorstellung in Yongquan wandern
  • Hände bilden den Trichter zu Baihui, Füße sind die Verbindung zur Erde, maximale Ausdehnung als Mensch zwischen Himmel und Erde spüren, nach dem Himmel strecken.
  • Fersen ganz bewusst wieder aufsetzen, Himmelsenergie mit sinkenden Armen mit Erdenergie verbinden
2. Übung Sonne und Mond auf einer Tragstange halten (Heng Dan Ri Yue)

Hier ist die Ausgeglichenheit zwischen Yin und Yang, Mond und Sonne schon im Namen Konzept. Die Ausgeglichenheit in der Horizontalen, zwischen links und rechts ist leicht zu spüren, auch im Wegschieben der Berge. Schwieriger ist es, beim Schwingen der Arme in den Himmel nicht das Qi ins Weltall zu werfen. Wobei das Sinken und Schöpfen eine sehr intensive und physisch starke Rückkehr zur Erde und zum Yin ist.

Yin-Hinweise

  • Die breite Stellung lädt ein, eine dritte Stütze zwischen beiden Beinen zu imaginieren. Das gelingt am besten, indem von Huiyin eine Verbindung zur Erde gedacht wird.
  • Diese Erdverbindung kann in jedem Sinken und Ausatmen visualisiert werden
  • Trotz den breiten Stands immer wieder bewusst alle Muskeln loslassen, die Schwerkraft des Körpers nach unten gehen lassen. So kann sinken, was den Menschen auf der Erde festigt und steigen, was ihn aufrichtet.
  • Nach dem Strecken der Arme nach oben die Himmelsenergie bewusst und langsam zum Körper zurück und dann nach unten führen.
  • Beim Schöpfen tief in die Erde graben.
  • Die Übung auch mal locker und ohne ganz großes Steigen und Sinken durchführen
3. Übung Der König Ba hebt ein schweres Bronzegefäß (Ba Wang Ju Ding)

Auf den ersten Blick scheint es hier nicht so einfach im Ringen um Gleichgewicht auf einem Bein stehend und beim Heben des Gefäßes über den Kopf und den zum Himmel gerichteten Blick, das Yin zu bewahren. Hinter dem physisch anspruchsvollen Ablauf dieser Übung kann der Yin-Yang-ausgleichende Aspekt im Heben des Qi-Gefäßes leicht in den Hintergrund geraten.

Yin-Hinweise

  • Während der gesamten Übung Yongquan mit Wurzeln in die Erde denken
  • Auch wenn sich der Fuß vom Boden löst, bleibt die virtuelle Wurzel
  • Die gegenläufige Armbewegung von oben nach unten und unten nach oben bewusst als Greifen der Erde und des Yin vorstellen.
  • Den Einbeinstand als starke Yin-Übung wahrnehmen. Wer auf einem Bein sicher stehen kann, muss tief in der Erde verwurzelt sein
  • Beim Öffnen zur Seite den Fuß bewusst auf der Ferse absetzen und ganz abrollen. Mit Yongquan eine neue starke Wurzel wachsen lassen
  • Den hinteren Fuß auf Yongquan ausdrehen und dabei bewusst eine Wurzel in die Erde schrauben.
  • Beim Heben des Gefäßes die Yongquans mit den in den Himmel gerichteten Laogongs verbinden.
4. Übung: Das große Rad beständig drehen (Falun Changzhuan)

Die vierte Übung hat offensichtlich einen stark Yin-Yang ausgleichenden Charakter. Oben und unten, hinten und vorne, links und rechts sowie das Verwringen der Wirbelsäule beim Sinken und Steigen schaffen eine perfekte Harmonie der Pole.

Auch diese Übung hat einen maximalen Bewegungsradius. Wer sie übt, breitet sich maximal im Raum zu allen Seiten aus. Diesem Yang Aspekt steht jedoch auch ein sehr starker Yin-Aspekt entegen. Das Rad dreht sich um das Zentrum des Unteren Dantien, QiHai und Huiyin, die Verbindung zur Erde werden zur Kugelachse des Rades. Yin und Yang bewegen sich ständig und gehen vollkommen in einander über. Ming Meng wird geöffnet und kann aufnehmen und abgeben.

Ich stelle mir das Große Rad gern als rollendes und dreidimensional kreisende Yin-Yang-Monade vor. Am Ende der Übung, wenn die Hände zum Dantian sinken, wird die Ausdehnung zurück zur Mitte geführt. Es lohnt sich, der Übung einen Moment nachzuspüren und dabei die Mitte und das Aufgestelltsein zwischen Himmel und Erde zu imaginieren.

Yin-Hinweise

  • Durch die geschlossene Beinstellung den Nierenmeridian vergegenwärtigen
  • Mit der Hand an Ming Men den Mittelpunkt, den Ruhepunkt des großen Kreises halten
  • Die Bewegung mit dem Kopf nur sanft mitgehen, die Augen folgen nicht der kreisenden Hand
  • Beim Abschluss bewusst zur Mitte und Ruhe zurückkehre
5. Übung: Der alte Pengzu streicht seinen Bart aus (Pengzu maxu)

Auch in dieser Übung, die zusammen mit dem Großen Rad den Mittelteil der ganzen Übungsserie darstellt, hat einen sehr erdverbundenen Charakter, in dem das Yin wenig versteckt ist. Yin und Yang gehen Hand in Hand und das Ausstreichen des Barts oder der Zöpfe ist eine von außen nach innen führende Bewegung mit starkem Yin-Aspekt. Im Heben der Arme und dem Einbeinstand und der starken Öffnung der Leiste wird das Yang gepflegt.

Die Übung wendet sich nach links und nach rechts und am Ende werden die beiden Pole durch die ableitende Bewegung in der Mitte vereinigt.

Im Ein- und Ausdrehen des jeweils äußeren Fußes auf Yongquan findet, noch stärker als in Übung 3 eine Pflege des Nieren-Yins statt. Insgesamt scheinen hier die Yin-Aspekte zu überwiegen, der Yang-Drache wird beruhigt, das ruhende Yin nimmt sich seinen Raum.

6. Übung: Der Torwächter bändigt den Tiger (Jingan Fuhu)

In dieser Übung fällt hingegen zuerst der starke Yang-Aspekt ins Auge. Alles scheint sich zum Himmel zu orientieren und der Stand so luftig, dass Erde und Yin aus dem Blickfeld geraten. Dazu muss man noch nicht einmal im Einbeinstand verstärkend die Ferse vom Boden heben, wie dies in manchen Übungsanleitungen zusätzlich empfohlen wird.

Der Name der Übung sagt ja bereits, dass hier der Tiger, Symbol des Yin, gebändigt wird. Der Augenblick des luftigsten Moments der Übung, wenn ich auf einem Bein stehe, die Fäuste in den Himmel recke, den Oberkörper seitlich beuge, kann als Figur aufgefasst werden, die den Tiger erschrecken und so in seine Schranken verweisen soll. Während die daoistische Interpretation der Übung innen weist und die Aufmerksamkeit nach innen führt, reckt sich in diesem Moment physisch alles nach außen.

Die Qigong-Übungen doch recht untypische extreme Haltung legt eine weitere Interpretation nahe. Schaut man auf alte schamanische Tänze an, wie sie in manchen Kulturen noch überliefert sind, scheint die Figur nicht mehr so ungewöhnlich. Ob bei buddhistischen Festen und Prozessionen, alemanischer Fasnet, mongolischen Festen oder Riten vieler afrikanischer Kulturen – die Bändigung des Tigers könnte eine archaische Geste sein, die in die Übungen des Fan Huan Gong weiterlebt.

Weiter oben habe ich bereits gesagt, dass diese Interpretation spekulativ ist – aber auch, dass es Wahrheiten und non-verbale Überlieferungen gibt, denen man sich nicht historisch-rational nähern kann.

Ein einfacherer Weg zum Yin/Yang-Ausgleich in der Bändigung des Tigers ist möglich, wenn man Übung 5 und 6 als Einheit betrachtet. Dem nach innen gerichteten und sehr verwurzelnden Ausstreichen des Bartes, der Pflege des Herzens folgt die große Bewegung in Außen, das Aufrichten und Ausbreiten.

Yin-Hinweise

  • Am Anfang bewusst mit den Händen die Erde streicheln
  • Zwischen den Wiederholungen die eigene Wurzel in der Erde finden. Yongquan und Huiyin sind Garantinnen der Erdverbundenheit
  • Die bleibende Wurzel des schwebenden Fußes über Yongquan wahrnehmen
  • Im Tiger die eigene Natur erkennen und annehmen, im Geist bei sich bleiben
  • Im Sinken nach der Extremstellung die Anziehungskraft der Erde spüren, mit den Faustaugen Ming Men und die Nieren grüßen und die Erde anschließend mit den Krallen kraulen.
  • Die ableitende Bewegung am Ende sammelt das eventuell zu weit nach außen transportierte Qi wieder ein. Hier kehrt Ruhe ein. Wichtig: Beim Heben der Arme zeigen die Handflächen eher nach unten oder nach vorne. Während der ganzen Bewegung der Schwerkraft in den Armen und Schultern nachspüren.
  • Die Rückkehr zur Erde mit einem Lächeln quittieren
7. Übung: Der Silberfluss ergießt sich in das Meer (Yinhe Ruh ai)

Auch diese Bewegung ist ausladend, verschwenderisch und überschwänglich, das Yang springt ins Auge, auch durch die extreme Öffnung des Herzens zum Himmel. Die Übung ist zudem dem Namen nach (Silberfluss = Milchstraße oder Großer Bär) über den Himmel hinaus ins Universum gerichtet.

Tatsächlich aber beginnt die Übung sehr erdverbunden mit einem Schritt zurück, einem Schritt ins Yin, ins Innere, die Vergangenheit und irdische Herkunft des Menschen. Aus dieser schöpfe ich zuerst und leite die Energie der Erde durch den Chong Mai, verbinde diese mit der Himmelsenergie. Aus dieser Verbindung entsteht das Mensch-Sein, Yin und Yang, ohne das eine oder das andere kann der Mensch nicht sein. Aus diesem perfekten Ausgleich heraus öffne ich mich dem Universum, in dem Zeit und Raum, Yin und Yang keinen Sinn mehr machen. Dann wird Himmelsenergie gegriffen, nach unten geführt und mit der Erdenergie verbunden.

Yin-Hinweise

  • Die Verlagerung des Gewichts in den Füßen bewusst empfinden, die Erdverbundenheit positiv wahrnehmen.
  • Die Verbindung von Himmel und Erde beim hoch- in herabführen der Hände spüren, die Berührung der Fingerspitzen nicht vergessen, sich berührende Hände bewahren die innere Festigkeit und das Yin
  • Wenn sich die Yin-Seite des Körpers nach oben öffnet, wendet sich gleichzeitig die Yang-Seite der Erde zu. In der Öffnung die Erde von unten spüren.
  • Leichte Abwandlung der Übung: In der Wendung zwischen den beiden Übungsteilen kurz innehalten. Die Fußspitzen zeigen nach innen, die Raute der Hände zeigt zur Erde, zur Erde bzw. nach innen blicken, den Rücken rund werden lassen. Diese nach innen gekehrte, erdverbundene Stellung schafft ein starkes Gegengewicht zur überschwänglichen Öffnung. Dann erst die Hände mit der Raute steigen lassen und die 180°-Drehung abschließen.
8. Übung: Xiyis Schlafübung (Wo xue Xiyi)

Die sportlich herausforderndste Übung ist dem Namen nach sehr Yin-orientiert. Der Schlaf ist Ruhe, passiv, er nährt und gleicht aus, erinnert an den Tod.

Der Legende nach war Xiyi ein daoistischer Weiser, der Qigong-Übungen lehrte. Er selbst soll ein Schlafkünstler gewesen und zu winterschlaf-ähnlichen Zuständen fähig gewesen sein. Eine Zeit der Inhaftierung überstand er, indem er sie verschlief.

In der Anleitung zur Übung heißt es: sehen und hören ohne wahrzunehmen.

Die Aufgabe ist also zum einen auf einem Bein das Schlafen zu üben und gleichzeitig die Sinne zu öffnen ohne das, was in die Sinne eindringt, zu verarbeiten. Nicht werten. Dieser Part ist wesentlich schwerer als die physische Ausführung der Übung.

Genau genommen ist all das unmöglich, ein dreifaches Paradox. Man kann auf einem Bein stehend nicht schlafen. Man kann nicht sehen ohne Bilder und nicht hören ohne Töne wahrzunehmen. Und man kann schlafend allemal nicht sehen und hören.

Mir scheint die Übung ein Appell zu sein, das Unbewusste wirken zu lassen, sich Bildern und Gefühlen aus allen Richtungen zu stellen. Und – so meine persönliche Übungserfahrung – die Übung ist für diesen Prozess eher eine Vorbereitung,  er stellt sich nicht während der Übung ein. Was sich durch die Beinahe-Umkehrstellung jedoch einstellen kann, ist ein Gefühl der Aufgeräumtheit. Alles wurde einmal bewegt und ist nun wieder an seinem richtigen Platz. Nun kann mit der Arbeit an mit den eigenen Träumen, Bildern und dem Unbewussten oder Unbeschreiblichen begonnen werden.

Auch Übung 7 und Übung 8 kann man als Einheit sehen. Übung 8 ist die Umkehrstellung der in Übung 7 praktizierten Öffnung zum Universum. Stattdessen lege ich mich auf die Erde, meine Yin-Seite zeigt zur Erde, meine Yang-Seite zum Himmel.

Nur am Ende in Übung 8 verdreht sich der Oberkörper zum Himmel, was wieder ein sehr starker Yang-Moment ist. Aber tatsächlich ist es nur ein Moment, kein Innehalten, sondern eine Bewegung, dann folgt die Rückkehr zur Erde, die tiefe Verwurzelung durch den stark regulierenden Abschluss.

Yin-Hinweise

  • Wie in jedem einbeinigen Stand die Schwerkraft bewusst im Körper wirken lassen. Alles sinken in die Erde sinken lassen. Dann erst die Übung beginnen.
  • Die Verwurzelung des Standbeins in der Erde durch die ganze Übung wahrnehmen und ggf. immer wieder dahin zurückfinden mit der Aufmerksamkeit.
  • Das Heben der Arme unbedingt regulierend mit Handlächen nach unten durchführen.
  • Die Übung öfter mal einzeln üben, so dass der Ablauf weniger Konzentration verlangt und die Schlafstellung sicherer wird – nur dann hat das Yin eine Chance.
  • Die Bewegung der Hände zum Boden in der waagerechten Stellung sowie die Verbindung von Herz und Erde betonen
  • Die Fäuste an Schläfenpunkt (geistbetont) und Gallenblase 30 (körperbetont) zur Verbindung der beiden Energien nutzen.
  • Die abschließende Öffnung zum Himmel kurz halten und bewusst zur Erde zurückkehren.

Stille Übungen

  1. Harmonisierung der Atmung
  2. Embryonales Atmen
  3. Ursprung des Himmels
  4. Helles, Reines Yang

Die Stillen Übungen sind als solche Yin-betont. Sie im Einzelnen anzuschauen und beispielsweise zu überlegen, was Helles, Reines Yang bedeuten kann und ob das Yin hier gänzlich unter den Tisch gefallen ist zugunsten einer Idee, die das Yin als vergänglich abwertet, kann ich in dieser Arbeit nicht mehr leisten.

Schluss

Ich bin in dieser Arbeit meinem Widerwillen gegenüber einigen Aspekten von Yin und Yang nachgegangen. Ich konnte ihn für mich klären und auflösen. Ich empfinde das als großen Gewinn, weil die nicht wertende, ganzheitliche und polare Yin-Yang-Sicht der Welt mich Gelassenheit und Harmonie gelehrt hat.

Qigong lebt. Es wandelt sich im und mit dem Lauf der Geschichte. Wer übt, verändert die Übung und die Übung verändert ihn. Qigong als uralte und nicht nur sprachlich überlieferte Kunst der Lebenspflege hat aber – so vermute ich mutig – auch Spuren längst vergangenen und verdrängten Wissens bewahrt. So kann durch Qigong auch Yin und Yang jenseits politischer und männlich dominierter Vereinnahmungen entdeckt und lebendig gemacht werden. Allerdings kann das zuerst nur nicht-sprachlich geschehen, also durch das Praktizieren von Qigong.

Wieder einmal hilft am Ende nur – weiter üben.

Bibliographie

Zeitschriften

Tiandiren Journal, Nachrichten der Deutschen Qigong Gesellschaft e.V., 38. Ausgabe, Oktober 2015. Schwerpunkt: Qigong und Frauen

Fanhuan Gong – Dr. Friedrich Dimmling, 2012. Sonderausgabe der Deutschen Qigong Gesellschaft e.V.

Bücher

Cleary, Thomas (Hrsg.). Das Tao der weisen Frauen. Der weibliche Weg der inneren Entwicklung. Bern/München/Wien, 1993.

Cleary, Thomas (Hrsg.). Die Drei Schätze des Dao. Basistexte der inneren Alchimie. Frankfurt am Main, 1996.

Colegrave, Sukie. Yin und Yang. Die Kräfte des Weiblichen und des Männlichen. Eine inspirierende Synthese von westlicher Psychologie und östlicher Weisheit. Frankfurt am Main, 1984.

Cohen, Kenneth. Qigong. Grundlagen, Methoden, Anwendung. Frankfurt am Main, 1998.

Edlund, Roni & Mitchell, Damo. Daoist Nei Gong For Women. The Art of the Lotus and the Moon. London, 2016.

Gillessen, Brigitte. Der Weg der Göttin. Das geheime Qi Gong der Frauen. München, 2007.

Hinterthür, Petra. Lotusblüten Qigong. Das Geheimnis der Lotusblüte – der Qigong-Weg der Frau. Oberstdorf, 2010.

Olvedi, Ulli. Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li. Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie. München, 2011.

Wenzel, Gerhard, Herwegh, Norbert. Im Fluss des Lebens – der Entwicklungsweg im Qigong. Wasserbug am Inn, 2014.

Linkliste

http://www.taiji-am-teich.de/wordpress/yin-yang-links/

Biographie Silke Buttgereit

Von den Kampfsportarten Judo und Karate kam ich 2004 zum TaijiQuan. Darin habe ich das ganzheitliche Wesen der Kampfkunst entdeckt. Mein Taiji-Weg hat mich zu Meisterinnen in Taiwan, Italien und Frankreich geführt. Eine Ausbildung zur QiGong-Lehrerin vertieft mein Wissen über die medizinischen und daoistischen Hintergründe chinesischer Bewegungsformen. Seit 2012 unterrichte ich Yangjia Michuan Taijiquan, seit 2015 auch Qigong.

Fußnoten

[1] Hier ist nicht der Raum, das weiter auszuführen: Es ist davon auszugehen, dass in die beiden in der Bibel aufgeschriebenen Geschichten bereits viele andere Geschichten und Mythen eingegangen sind, die sich auf dem Weg zur Verschriftlichung abgeschliffen, verändert und verwoben haben. So gibt es in beiden Geschichte Hinweise auf alte matriarchalische Schöpfungsmythen (Erschaffung der Welt aus dem Chaos, Formung des Menschen aus Lehm/Erde). Und die Figur der Lilith ist aus dem christlichen Alten Testament verschwunden. Im jüdischen Talmud taucht sie als erste Frau Adams auf und widersetzt sich der Vertreibung aus dem Paradies, fordert stattdessen von Gott Flügel und fliegt hinweg. Sie kann als Sinnbild der gelehrten und selbstbewussten Frau verstanden werden, die in der christlichen Ideologie und im Dualismus der Sünderin Eva und der der Heiligen Maria keinen Platz mehr hatte.
[2] Ich verwende hier die Begriffe „männlich“ und „weiblich“, obwohl mir klar ist, dass sie immer auf Glatteis führen, weil Biologie, Klischees und Rollenzuweisungen nie sauber voneinander zu trennen sind.
[3] Der Herabsetzung des Weiblichen, das sowohl das biologische Geschlecht als auch die imaginierten weiblichen Eigenschaften folgt die Herabsetzung des Anderen und des Fremden, die meist mit ähnlichen Attributen versehen werden wie das so genannte Weibliche. Schwarz, dunkel, undurchschaubar, triebgesteuert, irrational, unterlegen, weniger intelligent etc.. So wird am Ende alles Nicht-Konforme ebenso wie das Weibliche entwertet: Homosexualität, Transsexualität, Androgynität im Alltag (und nicht in der Kunst), ethnische und religiöse Minderheiten
[4] Dieses Veränderungspotenzial reicht weit hinein in Gesellschaft und Politik, aber das bleibt hier unausgeführt.