5. Übung: Peng Zu Ma Xu – der alte Peng streicht seinen Bart aus

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FanHuanGong Fünfte Übung
Professor Cong praktiziert die Fünfte Übung: Der alte Pengzu streicht seinen Bart aus (Pengzu maxu)

Die fünfte Übung des Fan Huan Gong beginnt wie die erste mit einem Eröffnungsschritt nach links. Dies geschieht nicht von ungefähr, denn wir treten in eine neue Sphäre des Übens ein: Von der Ebene der Körperseele Po und ihrer Anhaftung im Materiellen, was besonders die Befriedigung unserer elementarsten Triebe, Instinkte und Bedürfnisse zum Thema hat, gelangen wir im zweiten Abschnitt des Fan Huan Gong in die Sphäre der Geistseele Hun, die im Immateriellen haftet und unsere geistige Ausrichtung steuert. Hier darf es aber nicht zu einer Verdrängung oder Geringschätzung der Welt der Po kommen, sondern Hun und Po sollen sich in einer neuen Art und Weise aufeinander beziehen. Die von ihrer Zwanghaftigkeit und Begierde erleichterte Körperseele  (s. o.) wird zur Begleiterin der Geistseele, deren Kultivierung nun in den Mittelpunkt des Übens rückt: Das Geistige – die Hun – braucht die Materie, das Körperlich-Stoffliche – die Po –  zu ihrer Entfaltung; und die Materie braucht das Geistige zur Erlösung.

Namensgeber der 5. Übung ist der chinesische Methusalem Peng Zu, dem man das sagenhafte Lebensalter von über 800 Jahren nachsagt. Er ist ein Volksheiliger aus der Zeit des chinesischen Altertums, gehört im daoistischen Pantheon zu den acht Unsterblichen und laut Prof. Cong wird er auch heute noch besonders in Südchina außerordentlich verehrt. Die Armbewegungen in der Übung deuten auf einen für Chinesen sehr langen „Nikolaus-Bart“ hin, als Merkmal für ein extrem langes Leben.

Langlebigkeit ist ein zentrales Thema der daoistischen Naturphilosophie und in der Person des Peng Zu hat es zu zahlreichen Legendenbildungen und Spekulationen geführt. So werden ihm spezielle Techniken in der „Kunst der wechselseitigen Kultivierung“ – auf Deutsch übersetzt im Bereich der Sexualpraktiken – zugeschrieben, die das Jing, unsere Essenz auf spezielle Art nähren und bewahren helfen. Die „Kunst des Schlafzimmers“ war in der chinesischen Geschichte bis auf den heutigen Tag aber immer ein sehr umstrittenes Thema, und nach Ansicht von Prof. Cong war die Langlebigkeit des alten Peng sicher nicht nur auf seine vermeintliche Meisterschaft in diesem Bereich zurückzuführen.

Betrachtet man die Bewegungen der 5. Übung in ihrer Gesamtheit, so haben sie eine sehr leichte, fast tänzerische Note; sie wirken elegant und fast schwerelos. Sie unterscheiden sich deshalb im Gestus und Habitus sehr stark von den kraftvollen Bewegungen des Herrschers Ba in der 3. Übung. Gerhard Wenzel charakterisierte die Übung einmal in Berlin als weiblich, sie soll im Zeichen der Venus geübt werden. Nun ist das mit den Etiketten weiblich/männlich heutzutage so eine Sache, doch Tatsache ist, dass die Übung eher weiche, yinigere Züge trägt, und wer sie übt, wird sie in der Regel eher langsam und bedächtig ausführen und sich dabei vielleicht sogar etwas selbstverliebt den Bart streicheln. Es kann und darf also ein gewisser Narzissmus rund um den Bart gepflegt werden.

Auf den Punkt gebracht kann man die 5. Fan Huan Übung als eine Reinigungsübung begreifen. Die Arme und Hände, die den langen Bart umfassen, machen die Reinigungsarbeit indem sie sichelförmig von den Schläfen und Ohren über die Brustmitte diagonal nach unten zu den Rippenbögen streichen. Das von der Herzenergie dominierte mittlere Dantian ist dabei die Reinigungsinstanz, quasi die energetische „Waschmaschine“. Doch was gilt es überhaupt zu reinigen?

In der Traditionellen Chinesischen Medizin ist die Körperseele Po die Herrscherin über die sinnliche Wahrnehmung. Nach der Geburt vermittelt uns die Po-Seele die Fähigkeit des Empfindens und Fühlens. Ist die Po präsent, so sind Augen, Nase, Mund und Ohren sowie unsere Tastorgane wach und scharf und können alle Sinnesreize aufnehmen und unterscheiden.

Außerdem wird die Sinneswahrnehmung mit dem Tierbild des Drachen (Long), der Wandlungsphase Holz und dem Osten, also dem jungen Yang in Verbindung gebracht. Drachen sind normalerweise in der westlichen Mythologie wilde, feuerspuckende Wesen, die von edlen Rittern meist bekämpft und vernichtet werden. In der östlichen Mythologie sind Drachen eher Symbole für Weisheit und Fürsorge. Ihre Energie muss transformiert werden.

Was aber heißt das in Bezug auf die Sinneswahrnehmung? Normalerweise verarbeitet unser Gehirn nur ein Bruchteil der Sinnesreize bewusst im Großhirn. Die meisten Reize werden entweder gar nicht oder unbewusst und automatisiert in anderen Hirnarealen und Nervenstrukturen verarbeitet. Das ist auch gut so, denn würden alle Sinnesreize uns zu Bewusstsein kommen, würden wir glatt in den Wahnsinn getrieben. Es gibt also gewisse biochemisch-elektrische Strukturen im Gehirn, die wie Filter auf unsere bewusste Sinneswahrnehmung wirken und uns vor dem äußeren „Reiz-Chaos“ schützen.

Gerade in unserem heutigen Medienzeitalter mit seiner noch nie da gewesenen Informationsflut und Reizdichte ist die Bedeutung dieses Schutzes notwendiger denn je. Symbolisch gesagt ist der Drache heutzutage so überfordert, dass er ständig vor dem Burn Out oder Kollaps steht, was uns oft noch nicht einmal so recht zu Bewusstsein kommt, denn die meisten Informationstechnologien und Werbestrategien zielen heutzutage auf unser Unterbewusstsein.

Den Drachen zu transformieren kann demzufolge nur heißen, unsere Filter gegen all diese offensichtlichen oder unterschwellig-manipulativen Reizattacken verstärkt in Stellung zu bringen. Man denke an das Bild der 5 Affen, die sich Augen, Nase, Mund und Ohren zuhalten, um sich von Außenreizen abzuschirmen. Diese achtsame „Befreiung von den Außendingen“ geht einher mit einer Neuorientierung der Sinne auf unser Inneres. Die sinnliche Aufmerksamkeit findet nicht mehr vorwiegend im Außen statt, sondern mehr und mehr im Inneren; eine ganz neue Art von „Kopf-Kino“.

Zhang Boduan (983-1082 n. Chr.), der Begründer des südlichen Zweiges der Schule der Vollkommenen Wirklichkeit schreibt: „Wenn die Augen nicht schauen, die Ohren nicht hören, die Zunge nicht spricht, die Nase nicht riecht und die Gliedmaßen sich nicht bewegen, dann spricht man davon, dass die fünf Energien zur Quelle zurückkehren.“

Sinneseindrücke erzeugen in unserem Kopf und Herzen stets auch Gedanken und  Gefühle, bringen diverse Leidenschaften hervor, so z.B. Freude und Begierden, Kummer und Trauer, Zorn und Hass, Angst und Furcht. Diese Emotionen haben alle einen gravierenden Einfluss auf unseren Qi-Haushalt. Zorn lässt im Allgemeinen das Qi nach oben steigen, Kummer verknotet das Qi, lässt es stagnieren, übermäßige Freude und Begierde zerstreut das Qi, Angst lässt das Qi erstarren, blockiert seinen Fluss etc.. Deshalb spricht man auch von den 5 Affen als den 5 „Qi-Räubern“. Eine Beruhigung der Leidenschaften, d.h. eine Stabilisierung und Harmonisierung unserer Gemütsbewegungen ist also für einen ausgeglichenen Qi-Haushalt unerlässlich.

Dazu bietet uns im Qigong die mitfühlende und nicht anhaftende Energie des Herzens ein wirksames Handwerkszeug. Denn jede pathologische und krankmachende Emotion lässt sich auf der Herzebene durch eine polare Gefühlsregung bearbeiten, ausgleichen oder gar beseitigen. Die Güte des Herzens lässt Zorn und Ärger vergessen, hilft beim Verzeihen können, Zuversicht und Vertrauen im Herzen erleichtern uns von Kummer und Sorgen, innere Ruhe und Gelassenheit lassen uns besser mit Angst umgehen, Freude und Mitgefühl im Herzen relativieren Zustände von tiefer Trauer und Depression und das nicht-anhaftende, wunschlose Herz macht uns immer wieder frei von Süchten und Begierden. Mit der Bewusstmachung dieser Polaritäten lässt sich unser Gefühlsleben neu ausrichten, entwickelt sich ein Mechanismus, der uns vom zwanghaften Ausagieren unserer Emotionen befreit; denn nicht die Emotion an sich – z. B. die Sorge – ist krankmachend, sondern das krampfartige Festhalten an ihr.

Wenn wir also in der 5. Fan Huan Übung mit dem Tigermaul unserer Hände vom Schläfen/Ohr-Bereich des Kopfes diagonal über die Brustmitte nach unten zu Milz-Pankreas und Leber streichen, dann symbolisiert das diesen Reinigungsprozess. Die Bewegung des Bart-Ausstreichens (Ma Xu) ist ein Ableiten, Umwandeln und Reinigen blockierter Lebensenergie, die ausgehend von unseren Sinnesorganen im Kopf in Form von Gedanken und Gefühlen sich staut. Unsere Sinne gelten als „die sechs Wurzeln der Unreinheit und Befleckung“. Sie bringen Gefühle und Projektionen hervor, die im Brustbereich – auf der Ebene des Herz-Geistes – bewusst gemacht, besänftigt, transformiert und dann abgeleitet werden. Der oftmals obsessive, meist unnütze Gefühls- und Gedankenstau, der uns selbst verletzt und uns auch nicht selten dazu bringt, Andere zu verletzen, wird aufgelöst.

Dieser Prozess der Reinigung und Kultivierung bedarf natürlich ständiger Wiederholung und Einübung. So wie ein Kind nicht an einem Tag aufrecht Gehen lernt, so müssen auch bei der Neuausrichtung unseres Gefühls- und Gedankenlebens altbewährte Hirnstrukturen aufgelöst und neue Aufmerksamkeitsnetzwerke gebildet werden. Die moderne Hirnforschung postuliert, dass die neuronalen Schaltkreise, die beim Erlernen und Umlernen von komplexen Fertigkeiten benötigt werden, nicht von einem Moment zum anderen verändert werden können. Die neuronalen Netzwerke müssen Schritt für Schritt über einen längeren Zeitraum hinweg neu aufgebaut und trainiert werden, um die neuen Fertigkeiten – hier die Affektregulierung und Kontrolle obsessiver, krankmachender Geistes- und Gemütszustände – stabil und dauerhaft zu ermöglichen. Widersprüche und Rückschläge sind dabei nicht auszuschließen.

Mit den mondsichelartigen Bewegungen des Bart-Ausstreichens wird der Drache – die Sinneswahrnehmung und -verarbeitung – transformiert, kombiniert mit tänzerisch-wiegenden Drehbewegungen der Hüften und Beine. Das gereinigte und kultivierte Qi wird anschließend mit beiden Handflächen von Leber und Milz ausgehend erst etwas abgesenkt und dann vor dem Körper über den Kopf gehoben, wobei das jeweilige Spielbein ebenfalls angewinkelt mit angehoben und dann in einem kleinen Ausfallschritt seitlich wieder nieder gestellt wird.

Aufrecht im Bogenschritt stehend wird jetzt mit den beiden Tigermäulern das geläuterte Qi in das Schädeldach (Bai Hui) eingeführt. Die Hände streichen über die Schläfen (Tai Yang), Ohren und Wangen nach unten, und an der Kinnspitze wird der Bart noch einmal symbolisch mit den Tigermäulern beider Hände umfasst und liebevoll über die vordere Mittelachse des Rumpfes bis hinunter zum Unterbauch ausgestrichen. Innerlich wandert das Reingewaschene Qi im Zentralkanal – dem Silberfluss – durch das obere und mittlere Dantian zum unteren Dantian. Zur Bedeutung dieses Kanals wird später, im Rahmen der Erläuterungen zur 6. und 7. Fan Huan Bewegung, noch Weiteres zu sagen sein.

Nun folgt ein Anheben des Bartes vor dem Rumpf bis auf Schulterhöhe. Im begleitenden Übungsgedicht heißt es hierzu: „Im Hochheben des Bartes Kun und Qian austauschen.“ Qian (Himmel) und Kun (Erde) sind 2 der 8 Trigramme aus dem YiJing – dem Buch der Wandlungen -, die universelle, nicht dem Wandel der Zeit unterliegende Gegensätze darstellen. Sie symbolisieren auch die polaren Wirkkräfte von Yin und Yang. Der Himmel steht für Stärke, Festigkeit und schöpferische Kraft. Das Trigramm Erde steht für Demut, Empfänglichkeit und Biegsamkeit. Vereinigt man diese beiden Trigramme zu einem Hexagramm, so gibt es 2 Möglichkeiten: Einmal das Hexagramm mit dem Namen „Die Harmonie“ oder „Die Verschmelzung“ versehen mit der Nummer 11 und anderseits das Hexagramm „ Die Stockung“ oder „Trennung“ versehen mit der Nummer 12.

Bei Hexagramm 11 ist der Himmel, das Yang, unten, die Erde, das Yin, oben. Da das Yang des Himmels steigt und das Yin der Erde sinkt, ergibt sich eine Durchdringung bzw. Verschmelzung beider Energien. Im umgekehrten Fall bei Hexagramm 12 ist das Yin der Erde unten, das Yang des Himmels oben, was ein Auseinanderdriften beider Energien bewirkt. Der Austausch von Himmel und Erde bzw. das Vermischen von  Yang und Yin ist also entweder ergänzend, ausgleichend und einschließend oder entgegengesetzt, ausschließend und trügerisch.

Mit dem Anheben des Bartes soll ganz im Sinne des Hexagramms 11 eine ausgewogene Verschmelzung von wahrem Yin und wahrem Yang erfolgen: Die menschlichen Angelegenheiten, die Dinge der Welt sind das Material und der Prüfstein um die „Prinzipien des Dao“ zu erfahren und zu leben, um die „himmlischen Eigenschaften“ auszubilden. Das „Yin benutzen, um das Yang herbeizuholen“ ist das grundlegende Verfahren auf dem Übungsweg, um die Anhaftungen an das Irdische – die geschaffene Welt – Schritt für Schritt zu überwinden, den Geist des Himmels zu atmen und vollkommene Autonomie und Freiheit zu erlangen.

Doch bis es soweit kommt, sind weitere Übungsschritte nötig: Die Bewegung des Bartausstreichens wird seitenverkehrt fortgesetzt und dann noch einmal links und rechts wiederholt. Dann endet das Reinigen der Sinne, Gedanken und Gefühle mit einer sammelnden Abschlussbewegung seitlich über den Kopf. Die Hände führen das geläuterte Qi noch einmal über Kopf und Brust zum Unterleib.

Fazit

Das sichelartige Bartausstreichen (Ma Xu) ist als Prozess der Reinigung eine wichtige Voraussetzung für die jetzt folgende 6. Übung. Der transformierte, gezähmte Drache vereint sich mit dem Tiger. Dieser muss allerdings erst einmal gebändigt werden.

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