Erlebnisse mit dem Meister

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Persönliche Erinnerungen

Von Walter Gutheinz

Professor Cong mit Walter Gutheinz 90er Jahre in Seebeck
Professor Cong mit Walter Gutheinz in den 80er Jahren

Es waren die späten 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts als ich mit Qigong erstmals in Berührung kam. Genauer gesagt lernte ich damals bei einem Berliner Sannyasin, so hießen die orange gewandeten Anhänger Bhagwans, eine Tai Chi Form. Die Übungsstunden waren jedoch immer garniert mit Vorübungen aus der Welt des Qigong, deren Wirksamkeit mich mehr und mehr überzeugte. Qigong galt zwar in der damaligen Zeit eher als „Rentnergymnastik“, verpönt als Methode für Zahnlose, Kranke und Gebrechliche. Diese Einschätzungen ließen mich jedoch kalt.

War es Zufall oder Schicksal, dass mein Sohn in Ulm die dortige Waldorfschule besuchte und ich hierüber einen Arzt mit dem vielversprechenden Nachnamen Hölle kennen lernte, der ebenfalls ein großes Faible für das Qigong hatte und es sogar schon unterrichtete. Über ihn lernte ich das Kranich Qigong kennen und verzweifelte bei der 6. Übung, der „Stehenden Säule“, wo ich und meine Mitstreiter*innen geschlagene 45 Minuten mit zittrig-brennenden Beinen dem „Spontanen Spiel des Qi“ huldigten und Dieter seinem Namen alle Ehre machte.

Dieter amüsierte sich damals sichtlich über meinen inneren Protest und faselte etwas über „Aufsteigendes Leberfeuer“. Ich jedoch lies mich nicht entmutigen und nahm die Sache sportlich. Wenig später lud mich Dieter ein mit ihm nach Schwarzach ins schöne Österreich zu fahren, um dort das Qigong von einem chinesischen Meister, quasi von der Quelle, zu erlernen. Das klang verlockend, trotz der großen Entfernung von Berlin ins Salzburger Land.

Kleiner Mann im gelben Pullover

Die Turnhalle in St.Veit, einem Luftkurort oberhalb von Schwarzach im Pongau, war rappelvoll als ich zum ersten Mal mit Prof. Cong in Kontakt kam. Nicht zu übersehen war auch Dr. Wenzel mit dem Spitznamen „Butz“, der den hohen Gast aus dem fernen Osten schon mehrfach nach Österreich eingeladen hatte. So hatte sich schon eine richtige Fangemeinde um den Meister und seinen Adlatus herausgebildet.

Sagenhafte Kräfte wurden dem klein gewachsenen Chinesen mit dem gelben Pullover nachgesagt. Anwesende berichteten von Wunderheilungen mittels Qi-Übertragung durch die Hände des Meisters, und es herrschte bei einigen „Jüngern“ der zweifelsfreie Glaube vor, dass Prof. Cong mit dem Qi seiner Finger sogar ein Glas Wasser zum Kochen bringen könnte. Richtig verwegen wurde es, als eine „Verehrerin“ seinem Qi sogar die Kraft zusprach, die Zeiger der örtlichen Kirchturmuhr bewegen zu können. Das hätte auch den Jakubinern zu Zeiten der Französischen Revolution gefallen, wandten diese sich doch ebenfalls gegen die „Diktatur der Zeit“ in Form der gewaltsamen Demontage christlicher Kirchturmuhren.

Prof. Cong in Berlin-Kreuzberg

Bescheiden und freundlich

Auf mich wirkte das alles ein bisschen skurril und abgedreht, und ich fragte mich wie Prof. Cong, der beim Üben mit Dr. Wenzel alias Butz ständig um die Wette Speichel schluckte, mit diesem Erwartungsdruck wohl umgehen konnte. Zumal man auch die bergsteigerischen Fähigkeiten des Meisters lobend kolportierte: Dieter erzählt auch heute noch die wundersame Geschichte, Cong habe bei einer gemeinsamen Bergbegehung sogar den örtlichen Bergführer abgehängt und als Erster den Gipfel erreicht. Als geprüfter Hochtourenführer des Deutschen Alpenvereins wäre ich gerne bei diesem Spektakel dabei gewesen.

Trotz der okkulten Verehrung kam mir der Meister aus dem fernen Fuzhou ziemlich normal, bescheiden und freundlich vor. Das „guruhafte Meistergehabe“, das einige chinesische Qigong-Lehrer jener Zeit um sich herum verbreiteten, war bei Prof. Cong überhaupt nicht zu spüren. Gottseidank muss ich sagen, denn sonst hätte ich als antiautoritär gestrickter „Altachtundsechziger“ wohl schon bald das Weite gesucht.

Prof.Cong mit Dr. Gerhard Wenzel alias Butz vor einem besetzten Haus in Berlin-Kreuzberg

Gründung der Deutschen Qigong Gesellschaft

Da Dieter und ich nicht nur die einzigen deutschen Gäste – liebevoll von den Einheimischen als „Piefkes“ tituliert – waren, war es bald ausgemachte Sache Prof. Cong auch nach Deutschland einzuladen. Hierzu musste im Sommer 1990 die „Deutsche Qigong Gesellschaft“ in München gegründet werden, um die Ein- und Ausreiseformalien mit den chinesischen Behörden zu erleichtern. Ein cleverer Schachzug wie sich später herausstellen sollte, denn andere Qigong-Vereine und -Organisationen hätten sich auch gerne mit diesem Titel geschmückt.

In der ersten Zeit bestand die Gesellschaft nur aus etwa 15-20 Personen, die meisten im süddeutschen Raum beheimatet. Im fernen Berlin war ich das einzige Nordlicht des Vereins, welcher nun jährliche Tourneen mit Prof. Cong organisierte. Die wenigen Mitglieder wurden umgehend zu Veranstaltern, und schon bald tourte unser Lehrer in ganz Deutschland herum; namentlich in Ulm, München, Göttingen, Hamburg und Berlin. Ohne ein Wort Deutsch zu verstehen saß er das ein oder andere Mal im ICE der Deutschen Bundesbahn mit einem Schild um den Hals, das seinen nächsten Bestimmungsort auswies.

Cong in Berlin

Im Berliner Bezirk Kreuzberg, meinem damaligen Wohnort, stieß die Anwesenheit des Chinesen auf große Resonanz, nicht nur an den Übungswochenenden. Prof. Cong, ein großer Freund des morgendlichen Übens, unterrichtete auch unentgeltlich unter der Woche regelmäßig ab 7.00 Uhr, eine große Herausforderung für die stets noch schlaftrunkenen Kreuzberger*innen.

Cong liebte es nicht im Hotel zu übernachten, sondern zog es vor privat bei den Veranstalter*innen zu logieren. Auf diese Weise lernte man ihn auch als Menschen kennen. Völlig überraschend für mich interessierte er sich tatsächlich ebenfalls für den deutschen Fußball, sodass wir an den Sonnabenden nach den Seminaren uns oft vor der Glotze bei der Sportschau wiederfanden. Besonders der kleine, dribbelstarke und quirlige Thomas Hässler, damals seines Zeichens Nationalspieler, hatte es ihm angetan. Aber auch die Dorfkicker des FC Seebeck/Lindow wurden von der Seitenlinie enthusiastisch angefeuert.

Apropo Seebeck: Zur Sommerzeit fanden die Berlin-Seminare immer draußen in der herrlichen Natur der Brandenburgischen Seenplatte statt. Cong konnte eigentlich nie verstehen, dass Menschen in Deutschland angesichts einer solch überwältigenden Natur oft zu „Nierenschwäche“ neigen. Und im Potsdamer Schlosspark Sanssouci mit seinen uralten Bäumen war er bei einem Spaziergang so von dem guten Qi vor Ort überwältigt, dass er gleich für 14 Tage im Park zelten wollte. Das haben wir ihm aber dann doch ausgeredet, denn der Park ist nachts geschlossen.

Eigentlich war Prof. Cong jederzeit in der Lage, an allen möglichen und unmöglichen Orten Qigong zu praktizieren, sei es auf dem Bahnsteig oder unter Hochspannungsleitungen. Immer kam Freude und großer Enthusiamus auf, wenn sich eine Gelegenheit zum Üben ergab. Bereitwillig behandelte er auch jede unserer kleinen wie auch großen Wehwehchen, und gar manche/r holte sich blaue Flecken bei der obligaten Büffelhornplättchenmassage ab. Oft vergingen die Tage wie im Rausch mit wenig Schlaf, doch ohne Müdigkeit.

Meisterliche Kochkünste

Eine besondere Freude wurde mir zuteil, als ich die Kochkünste des Meisters kennenlernen durfte. Schon bei den 2. Deutschen Qigong Tagen in Bonn – Petra Hinterthür wird sich noch gut an sie erinnern – fiel mir die Tatsache auf, dass Prof. Cong mit unseren Speisen zuweilen seine liebe Mühe und Not hatte. Zwar probierte er tapfer immer wieder alle deutschen Gerichte aus, trank Milch und aß Käse, doch sein Magen-Qi rebellierte zuweilen in die falsche Richtung. Auch das Essen der chinesischen Restaurants in Berlin konnte ihn nicht besonders begeistern. So blieb die einzige Möglichkeit selbst zu kochen. Also wurde mit großer Begeisterung nach der Morgenübung im Asia-Laden eingekauft und dann die tägliche Kochsause zelebriert. Und ohne zu übertreiben sage ich heute, selten habe ich so gut und geschmackvoll gegessen.

Das größte Geschenk, das uns Prof. Cong machte, waren allerdings die Übungen des Ba Fan Huan Gong. Lange hielt sich das Gerücht, dass Prof. Cong diese Übungen nur mit Dr. Wenzel exclusiv im hauseigenen Garten in Schwarzach zelebrierte. Das konnte auf die Dauer nicht hingenommen werden. Und tatsächlich schafften wir es schließlich in Berlin, Cong dazu zu bewegen auch uns diese Übungen beizubringen. Für Deutschland war das eine Premiere. Nahezu 30 Jahre sind seither vergangen, und es gibt auch heute noch eine Reihe von Menschen, die dieses Übungssystem nahezu täglich praktizieren. Erst im Laufe der Zeit ist mir das Ausmaß und die Tragweite dieser Übungsreihe mit ihrer langen 2000jährigen Geschichte bewusst geworden. Wer alles steht in der langen Ahnenreihe der Fan Huan Übenden? Und warum ist das Fan Huan Gong gerade jetzt in den Westen nach Europa gekommen? Diese Fragen sind, wenn überhaupt, nur mit Demut und Dankbarkeit zu beantworten.

Professor Cong in Weimar 2010
Professor Cong und seine Frau mit Walter Gutheinz 2010 in Weimar

Klar war auch, dass die Reise- und Unterrichtstätigkeit Prof. Congs irgendwann sein Ende finden musste. Ende der 90er Jahre war es soweit. Der Meister entließ seine Kinder, auch ein bisschen mit Sorge und Wehmut, ob seine Saat auch wirklich aufgehen sollte. Doch 2010 in Weimar war ihm dann die Freude und Genugtuung anzumerken, dass seine Art Qigong zu üben und zu leben nachhaltig Spuren hinterlassen hat.

Kommerzialisierung des Qigong

Was bleibt? Der experimentelle und innovative Zugang in die Welt des Qi mit Hilfe der Hybris eines Meisters – oder vielleicht auch mal Meisterin – ist heutzutage abgelöst durch ein geregeltes und zuweilen formalisiertes Ausbildungswesen. Zertifikate sind dann oft wichtiger als Qi-Erfahrungen. Die Kommerzialisierung und Vermarktung des Qigong schreitet voran. Raummieten und Kursgebühren steigen. Die Preisgestaltung ehemaliger Schüler*innen übertrumpft zuweilen die ihrer Lehrer und Ausbilder*innen. Qigong entartet zur Ware. Verschafft nur die Kreditkarte und ein gut gefülltes Bankkonto den Eintritt in den „Gehobenen Qigong-Zustand“?

Das Yin kollegialer und egalitärer Strukturen

Doch sollten wir uns von diesen problematischen Tendenzen nicht völlig aus der Bahn bringen lassen. Das Qigong in Deutschland ist frei und nicht wie in China staatlich gelenkt. Unsere Qigong-Gesellschaft ist unabhängig, demokratisch, weltanschaulich neutral und feminin. Sie ermöglicht offene Begegnung und freien Austausch. Das Yang der Ära charismatischer Meister ist abgelöst durch das Yin kollegialer und egalitärer Strukturen in unserem Vereinsleben. Letztere müssen immer wieder neu eingefordert und eingeübt werden, denn der „brennende Ehrgeiz“ mancher Ehrenämtler*innen ist – wie die Vergangenheit zeigt – oft der Stolperstein in Form von Bevormundung und Machtmissbrauch.

Qigong – ein Sprengsatz

Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit, Demut und Bescheidenheit, Mitgefühl und Güte, Vertrauen und Lebensmut, innere Ruhe und Gelassenheit sind Seelentugenden, die etwas außer Mode gekommen sind, altmodisch erscheinen; doch es sind die Wirkkräfte, die entstehen, wenn wir im Qigong unseren Geist reinigen, unser Qi läutern. Dann verändert sich unsere Persönlichkeit, verlagern sich unsere Wertvorstellungen. Das ist der Sprengsatz, der unsere herrschende Kultur und Ideologie infrage stellt, wo es zu einem Nichtmehrmitmachen und einem Innehalten kommen kann. Es ist ein wichtiger Schritt, um eins mit sich und der Welt, um gesund zu werden. Und dann – so hoffe ich – kann sich auch langfristig unsere Gesellschaft und Wirtschaftsweise verändern.

Professor Cong

Walter Gutheinz, April 2020

Walter Gutheinz:

  • Diplom Pädagoge
  • Heilpraktiker
  • pensionierter Lehrer im 2. Bildungsweg
  • Ehemaliger Shiatsu-Praktiker und Ausbilder
  • Schüler und Veranstalter von Prof. Cong
  • Mitbegründer der Deutschen Qigong Gesellscchaft
  • Qigong-Lehrer und Ausbilder in Berlin seit 1994
  • Lieblingsübung: Ba Fan Huan Gong