Professor Cong in Weimar

Qigong im Westen

Rede zur Feier 20 Jahre Deutsche Qigong-Gesellschaft in Weimer 2010.

Von Walter Gutheinz.

Liebe Qigong-Freunde und Freundinnen,
Verehrte Gäste, lieber Prof. Cong, werte Yü Deiyen,

Es ist mir eine besondere Ehre und Freude zugleich heute zum Anlass des 20jährigen Bestehens der Deutschen Qigong-Gesellschaft zu euch sprechen zu dürfen. Vielen Dank dem Vorstand und dem Fest-Kommitee für diese Einladung.

20 Jahre Qigong in Deutschland sind nur ein Wimpernschlag gemessen an der Jahrtausendealten Qigong-Geschichte in China. Und natürlich beginnt die die Zeitrechnung des Qigong in Deutschland auch nicht mit der Gründung der Deutschen Qigong Gesellschaft im Sommer 1990 in München. Schon in früheren Zeiten hatten einzelne Menschen in Deutschland und Europa die Gelegenheit die oft in Klöstern oder Geheimbünden versteckte Qigong-Kultur Chinas kennen zu lernen; man denke nur an solche Persönlichkeiten wie den französischen Jesuitenpater Cibot, den Mathematiker Leibniz, den Psychotherapeuten C.G. Jung oder den Sinologen Richard Wilhelm.

Doch zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts bereisten zum ersten Mal chinesische Qigong-Meister systematisch in größerer Anzahl Westeuropa mit dem Vorhaben ihre Methoden an uns „Langnasen und Käseesser“ zu vermitteln. Es waren z. B. Prof. Ding oder Prof. Jiao, Prof. Zhang Guande oder Liu Han Wen, ja mit Professor betitelten wir sie eigentlich ungefragt alle, die uns in Deutschland mehrfach unterrichteten.

Es war eine besondere Situation damals in China, die die Lust und die Bereitschaft der Qigong-Meister weckte, das Qigong in den Westen zu exportieren. China hatte gerade die Schrecken der Kulturrevolution hinter sich gebracht, von der ich damals als überzeugter Mao-Anhänger glaubte, sie würde den neuen „sozialistischen Menschen“ schaffen. Was für eine fatale Fehleinschätzung, der nicht nur ich damals zum Opfer fiel. Doch nach der Verhaftung der Viererbande und dem bald folgenden Tod Mao Tse Tungs entwickelte sich eine neue offenere staatliche Politik, die es erlaubte, Qigong in China ohne Sanktionen in der Öffentlichkeit auszuführen, und den Meistern gestattete in den Westen zu reisen.

War Qigong im alten vorkommunistischen China eher eine Privatsache gewesen, die nur „Auserwählte“ in einem persönlichen Meister-Schüler Verhältnis erlernen durften, so war es jetzt plötzlich möglich, dass Tausende ja manchmal sogar Millionen von Chinesen tradierte oder neu überarbeitete Qigong-Methoden auf öffentlichen Plätzen lernten und übten, und dies von staatlicher Seite nicht nur geduldet, sondern manchmal sogar gefördert wurde: Das therapeutische, von Frau GuoLin entwickelte Qigong-Gehen sei nur als ein Beispiel erwähnt.

Die Berliner Ärztin Josephine Zöller, die Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre in Peking mit dieser neuen Qigong-Kultur in Kontakt kam – sie studierte u. a. auch bei Frau GouLin – hat nach ihrer Rückkehr in Deutschland als Erste ernsthaft Qigong unterrichtet und verbreitet, u. a. auch in Kliniken und Krankenhäusern. Sie war auch die erste deutsche Buchautorin zum Thema Gesundheitsübungen aus dem Reich der Mitte. Eine weitere Pionierin in dieser Zeit war die kürzlich verstorbene Christl Proksch.

Leider haben beide Frauen mit der Gründung der Deutschen Qigong-Gesellschaft nichts zu tun. Unsere Wurzeln liegen vielmehr in Österreich. Dr. Gerhard Wenzel, ein Arzt aus Schwarzach im österreichischen Pongau, bereiste mit der Österreichischen Akupunkturgesellschaft in den 80er Jahren zweimal nacheinander China, und dabei auch unter anderem die Provinz Fuzhoujen in Südchina. Auf der zweiten Reise 1986 lernte er an der Universität Fuzhou Prof. Cong kennen, der dort Qigong unterrichtete.

Prof. Cong mit Dr. Wenzel
Prof. Cong mit Dr. Wenzel

Heute sitzt Prof. Cong als Ehrengast in unserer Mitte. Als er 1988 seinen ersten Gegenbesuch in Österreich machte, ahnte er sicherlich nicht, welchen entscheidenden Beitrag er in der Folgezeit für die Entwicklung des Qigong im deutschsprachigen Raum leisten sollte. Seine bescheidene und unkomplizierte Art, fern von jeglichem Personenkult und autoritärem Meistergehabe, seine immerwährende Bereitschaft besonders kranken Menschen zu helfen, begeisterte uns alle von der ersten Stunde an. Außerdem hatte er alte Übungsschätze aus dem Süden Chinas im Reisegepäck – ich erwähne nur die Übung vom Ursprung des Lichts oder das Ba Fan Huan Gong – die uns bis auf den heutigen Tag faszinieren. Nochmals  an dieser Stelle herzlichen Dank dafür.

Es war klar, dass weitere Besuche von Prof. Cong gewünscht und nur durch offizielle Einladungen eines Vereins oder einer Organisation erfolgen konnten. Man überlegte kurze Zeit eine Deutsch-Österreichische Qigong-Gesellschaft zu gründen, doch bald setzte sich das nationalstaatliche Modell von 2 getrennten Partnergesellschaften durch, und es kam zuerst zur Gründung der Österreichischen und wenig später zur Gründung der Deutschen Qigong-Gesellschaft. 8 Cong-Schüler, hauptsächlich aus Süddeutschland, waren es, die die Gesellschaft 1990 gründeten, und einige von ihnen sind auch heute persönlich anwesend .

Der Stammbaum der DQGG

Es waren ca. 20-30 Mitglieder, die die Anfangszeit unserer Gesellschaft prägten; und in Berlin war ich mehrere Jahre lang das einzige und meist belächelte Nordlicht des Vereins. Qigong galt als individueller Weg und der Beitritt oder gar die aktive Mitarbeit in unserer Qigong-Gesellschaft hatte bei den meisten meiner Berliner Qigong-Freunde das Geschmäckle von Vereinsmeierei, bürokratischer  Bevormundung und unnützer Geldverschwendung.

Die Organisation und Durchführung von Prof. Congs Deutschland-Seminaren war zunächst die wichtigste Aufgabe der aktiven Vereinsmitglieder. Nicht von ungefähr haben sich aus den Tournee-Standorten Prof. Congs – ich nenne hier nur stellvertretend Ulm, München, Göttingen, Hamburg und Berlin – später einige der Zentren für unsere heutige Qigong-Ausbildung herausgebildet.

Professor Cong in Berlin mit der Dolmetscherin Angelika Schaefer

Doch mit dem Zulauf neuer Mitglieder erweiterte sich auch das Spektrum der Übungsmethoden und deren Repräsentanten über das Angebot von Prof. Cong hinaus. Und es ist bis auf den heutigen Tag eine große Stärke unserer Gesellschaft, dass wir nicht wie andere Organisationen nur dem Übungsprogramm eines chinesischen Lehrers verpflichtet sind, sondern eine bunte Vielfalt an Methoden und Übungen in unserem Verein lebendig sein dürfen. Diese Offenheit und weltanschauliche und religiöse Neutralität mag zwar manchmal etwas Diffus-Beliebiges ausstrahlen, Konkurrenzdenken und Eifersüchteleien untereinander entfachen, doch unsere daoistischen Urahnen würden mir ganz gewiss zustimmen, wenn ich hier behaupte, dass der Qigong-Weg nicht nur – wie Laotse behauptete – mit dem ersten Schritt beginnt, sondern auch mit verschieden Spazierstöcken oder Fahrzeugen unternommen werden kann.

Eine weitere Pioniertat der noch jungen Deutschen Qigong-Gesellschaft war die Veranstaltung der 1. Deutschen Qigong-Tage 1994 in Ulm-Vöhringen. Zwar waren uns die Österreicher wieder mit ihrem 1. Qigong – Kongress auf Schloss Goldegg um ein Jahr zuvor gekommen, doch die von Beate Hüfner hauptsächlich organisierte Veranstaltung begründete eine Tradition von regelmäßig alle 2 Jahre stattfindenden Qigong-Tagen, wechselweise veranstaltet von verschiedenen Organisationen und Institutionen, die bis zum heutigen Tag anhält.

Äußerte Prof. Cong in einem persönlichen Gespräch mir gegenüber mal die Meinung, dass Qigong eigentlich erst für Menschen ab 30 so richtig geeignet sei, so haben wir ihn in diesem einen Punkt gründlich widerlegt. Das Kinder-Qigong ist zu einer allseits beachteten Spezialität in unserer Gesellschaft herangereift und mit der Veranstaltung der 1. Deutschen Kinder-Qigong-Tage erlebten wir 2001 in Bad Windsheim eine Weltpremiere unter dem Motto „Kinder bewegen die Welt“. Die Mütter des Kinder-Qigongs in der Deutschen Qigong Gesellschaft sind heute Abend ebenfalls anwesend: Ich darf vorstellen: Zuzana Sebkova, Berta Müller und Evelyn Beham.

Auf die weitere Geschichte unserer Gesellschaft möchte ich an dieser Stelle jetzt nicht weiter eingehen. In der letzten Ausgabe unserer Vereinszeitschrift Tiandiren hat eine Reihe von Autoren jeweils aus ihrer Sicht ein Stück unserer Geschichte beschrieben, und ich bitte alle Interessierte, die die Artikel noch nicht lesen konnten, es nachzuholen. Stellvertretend möchte ich hier aber noch einige Personen würdigen, die seit langem unentwegt in unserer Gesellschaft Arbeit leisten, sei es Monika Binder, Heike und Georg Seeberger, Karin Pollert, Jutta Klauser-Hartmann, Gudrun Bayer, Petra Hinterthür, Gitta Bach, Elvira Glück, Asta Eichhorst, Imke Bock-Möbius, Uta Reinshagen, Claudia Rausch-Michl, Margot Müller, Gise Schöller, Ulrike Dehnert, Chris Saleski, Helmut Bauer, Rainer Jakisch und viele, viele andere mehr.

Wie ihr alle wisst, das Dao wirkt im Verborgenen und im Namenlosen. Viele Aktivisten und treue Weggefährten und –gefährtinnen habe ich jetzt nicht erwähnt und würdigen können. Sie mögen mir das verzeihen und sich trotzdem alle, soweit sie hier anwesend sind, nach der Veranstaltung in unseren grünen Stammbaum mit eintragen. Richtig bunt wird der Baum nämlich nicht nur durch das einzelne Blatt, sondern durch den gesamten Blätterwald.

Ein grundsätzliches Problem des stets größer werdenden Qigong-Vereins – wir haben inzwischen ja über tausend Mitglieder – war sicher von Anfang an die Diskrepanz zwischen der Arbeit einiger weniger Aktivisten in den jeweiligen Vorständen und der weitgehenden Passivität der Mehrzahl unserer Mitglieder. Auch durch die Einrichtung von Beiräten Ende der 90er Jahre hat sich das Problem nicht grundsätzlich gelöst. Viele unserer Mitglieder sehen nach wie vor keinen Sinn oder finden keine Anknüpfungspunkte in der Vereinsarbeit. So wurde der „Vereins-Karren“ immer nur von einigen Wenigen gezogen.

Der jetzige kollektive Vorstand hat sich zur Aufgabe gemacht, die immer vielfältiger und aufwendiger werdende Vereinsarbeit auf breitere Schultern zu verteilen. Aktionen wie das jährliche, seit Sommer 2008 umsonst und draußen veranstaltete „Qigong im Park“ mobilisieren nicht nur Außenstehende und Interessierte, sondern auch unsere eigenen Mitglieder. „Qigong im Park“ ist eine tolle Idee und ein guter Anfang unkonventionell nach außen in der Öffentlichkeit zu arbeiten, und viele unserer ausgebildeten Kursleiter und Lehrer fühlen sich unterstützt und in die Vereinsarbeit eingebunden.

Auch regionale Qigong-Tage, wie erst kürzlich in Esslingen veranstaltet, sind gute Basisaktivitäten, die unsere Außenwirkung verbessern und unsere Mitglieder zum Mittun aktivieren. Sie sind außerdem einfacher und weniger aufwendig zu organisieren als nationale Qigong-Kongresse.

Erwähnt seien auch noch diverse Arbeitskreise, insbesondere der Arbeitskreis „Qigong mit älteren Menschen“, der nicht nur Praktizierende in diesem Tätigkeitsbereich in unserer Gesellschaft vernetzt, sondern im kommenden Jahr eine Weiterbildung für dieses sicher immer wichtiger werdende Arbeitsfeld anbietet. Vielen Dank und weiter so.

Natürlich unterliegt unsere Vereinsarbeit auch den Gesetzen von Yin und Yang: Phasen der Ruhe folgen Phasen der Bewegung und umgekehrt, die Arbeit nach innen und die Arbeit nach außen muss ins Gleichgewicht kommen. Die Organisation von jährlichen Austausch-Treffen für die Pflege bestimmter Übungsmethoden begann vor 9 Jahren mit dem 1. Fan Huan Treffen hier in Weimar. Inzwischen gibt es eben solche Treffen für das Kranich- und Chan Mi Qigong und die Basisübungen. Auch diese Tradition lässt sich ganz bestimmt noch mit weiteren Übungsmethoden ausbauen und fördert unseren  inneren Zusammenhalt.

Ein tragender Schwerpunkt unserer Arbeit in den letzten 15 Jahren war und ist aus meiner Sicht jedoch die Organisation und Durchführung einer qualifizierten Qigong-Ausbildung. 1995 begannen in Ulm und Berlin die ersten Ausbildungsgruppen, nachdem uns die Austrianer auch das erfolgreich vorgemacht hatten. Auch unsere Freunde vom ASS-Institut in München begannen um diese Zeit. Bestimmt sitzen heute viele SchülerInnen von damals, unsere “Versuchskaninchen der 1. Stunde“, im Saal. Inzwischen sind mehr als ein Drittel unserer Vereinsmitglieder von uns selbst ausgebildete Lehrer oder Kursleiterinnen. Herzlich willkommen zu diesem schönen Wiedersehen, und es wäre schön auch eure Namen alle im Stammbaum wieder zu finden.

Lernte man noch in den 80er und frühen 90er Jahren Qigong, indem man diesem oder jenem Qigong-Meister nachreiste, um sich danach mehr oder weniger schnell zum Unterrichten berufen zu fühlen – nur manchmal musste man sich die ausdrückliche Erlaubnis eines Meisters holen – , so hat unsere heutige Zeit eine spezielle Ausbildungskultur und etwas ketzerisch gesagt das Diplomierungs- und Zertifikationsunwesen hervorgebracht. Ich sage das auch voller Selbstkritik, denn mit der Verfassung unserer Ausbildungsrichtlinien habe ich in Zusammenarbeit mit Petra und Heike auch zu dieser Entwicklung mit beigetragen.

Das Erlernen von Qigong kann ja mit den unterschiedlichsten Absichten verbunden sein. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sehr es vor 20 Jahren in Mode war, Techniken der Qi-Übertragung zu lernen, um damit Kranke zu heilen, wie heiß viele von uns darauf waren, den „diagnostischen Röntgenblick“ jener Qigong-Meister zu erlernen, wenn sie uns  beim Diagnostizieren von Krankheiten verblüfften. Heutzutage stehen – etwas überspitzt gesagt – bei der Ausbildung andere Interessen im Vordergrund: Der Gebrauchswert der Abschlüsse, die Zertifikate und Urkunden und deren Anerkennung durch die Krankenkassen.

Versteht mich bitte nicht falsch. Ich will das nicht werten, nach dem Motto „Früher war alles besser“! Es gibt viele Wünsche und Ziele, die uns motivieren können, Qigong zu lernen und zu praktizieren. Aber das eigentliche Ziel „des Üben um des Übens selbst willen“, das absichtslose Tun, das daoistische WuWei gerät bei all diesen mehr oder weniger wichtigen Motiven aus dem Blickfeld. „Wir müssen nichts werden, und auch nichts Besonderes sein“, lautet die Botschaft unserer daoistischen Vordenker, wenn wir uns dem Qigong-Üben widmen.

Ausbildungen haben die Tendenz formale Fertigkeiten und abfragbares Wissen in den Vordergrund zu stellen. Inwieweit das mit dem Stufenweg des Qigong – die Essenz bewahren und sammeln, verfeinern und in Qi umwandeln; das Qi sammeln und bewahren, läutern und in Shen umwandeln; das Shen läutern und in die Leere zurückführen – immer konform geht, wage ich zu bezweifeln. Begreift man Qigong als einen ganzheitlichen Prozess für Körper, Geist und Seele, dann ist Qigong gewiss nicht nur eine präventive Gesundheitsgymnastik oder eine entspannungsfördernde Wellnessmethode, wie es vielleicht von einigen Krankenkassen verstanden und neuerdings auch von bestimmten staatlichen und  halbstaatlichen Kommissionen aus China wieder propagiert wird.

Weil Qigong nicht nur auf den körperlichen Aspekt unseres Lebens zielt, sondern eine geistig-seelische Entwicklung immer mit einschließt, muss man sich fragen, wie ist so was in eine Ausbildung zu integrieren; wie kann individuelles spirituelles Wachstum im Rahmen eines Ausbildungsprozesses gedeihen, ohne die uns Anvertrauten mit unseren eigenen Vorgaben und Einstellungen zu manipulieren. Wir sind keine neue Kirche und auch keine neue Qigong-Sekte, aber an dem Thema der Persönlichkeitsentfaltung, der Entwicklung des Shen in unseren Herzen kommen wir nicht vorbei. Nur so kann unsere Ausbildung im Sinne der Tradition authentisch sein.

Und es ist auch klar, dass dieser Prozess der Zähmung und Kultivierung des Herzgeistes Xin, seiner Loslösung von und nicht mehr Anhaftung an den weltlichen Angelegenheiten nicht widerspruchsfrei und schon gar nicht im Zeitrahmen einer 2 oder 4 Jahre dauernden Ausbildung allein bewältigt werden kann. Qigong war und ist ein Lebensweg, das wird in unserer heutigen schnelllebigen Zeit oft vergessen oder verschmäht. Es kann nicht wie Fast-Food rasch konsumiert und dann wieder in die Abfalltonne geworfen werden. Eine Ausbildung kann so gesehen nur eine Etappe auf der Reise sein.

„Indem man den wahren Geist im Herzen sammelt und mit dem Ursprungsgeist (Yuanshen) vereint, entsteht das „Licht von Innen“ als eine Antwort auf das „Licht von Oben“. Diese Stufe heißt im Qigong: Das Licht tritt in den leeren Raum.“ Diese etwas spiritistisch anmutenden Sätze stammen aus der Feder meines Lehrers und Weggefährten Gerhard Wenzel. Und weiter: „Wenn der „reine Geist, das klare Yang im Zustand der leeren Stille den Ursprung des Himmels umgreift“ – das ist übrigens auch genau die konzeptionelle Linie in den Stillen Übungen des Fan Huan Gong – ist jegliche Dualität, jedes Getrenntsein aufgehoben, werden wir ganz und eins, sind wir zum Ursprung, zur Quelle zurückgekehrt.“

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Probleme und Verstrickungen in unserem Lebensalltag kleiner werden oder gar ganz verschwinden. Unvollkommenheit und die Traurigkeit darüber sind der Preis, den man dafür zahlen muss, dass man lebt. Dieser Preis kann zuweilen hoch sein und bisweilen kommt einem das Üben wie ein Kampf vor, bei dem man als Lohn fürs Durchhalten bloß die Chance erhält, noch eine Weile weiter zu üben. Nun das hört sich ein bisschen trostlos an, doch manchmal bekommt man unterwegs die Quelle, den Silberfluss und das ganze Meer zu sehen.

20 Jahre Deutsche Qigong Gesellschaft, für mich und für viele von uns hier im Saal sind das auch 20 Jahre unseres Lebens. Lieber Prof. Cong, dich trieb in den letzten Jahren deiner Unterweisungen immer die Sorge um, ob das Qigong im Westen bei deinen Schülern in die richtigen Hände gelang, ob deine Saat auch aufgehen wird. Ich glaube du kannst beruhigt und ein bisschen stolz auf dich und deine Arbeit sein. Überschwänglich könnte ich jetzt hier verkünden, du hast dir bleibende Verdienste um das Dao erworben, doch steht mir eine solche Einschätzung erstens gar nicht zu und zweitens würdest du mir sicher sagen, das Dao habe nur durch dich hindurch gewirkt.

Was bleibt zu tun, liebe Freunde und Weggefährten? Wer wird in 30 Jahren das 50jährige, in 80 Jahren das 100jährige Bestehen der DQGG feiern? Eins ist sicher, alles wird sich wandeln und nichts wird mehr so sein, wie es heute war. In unserer heutigen Zeit dominiert weltweit das Yang-Prinzip, die Energie des interessengeleiteten rationalen Denkens, das Streben nach Leistung und Profit, das Beherrschen und Ausbeuten der Natur, die Kontrolle und Manipulation der Menschen durch eine gigantische Unterhaltungs- und Medienindustrie. Das sich zum Schein noch kommunistisch nennende China ist zur Lokomotive des globalisierten Weltkapitalismus geworden, und hat mit der von uns so gern und häufig idealisierten daoistischen Ahnenkultur nichts mehr gemein. Überall weltweit öffnet sich die Schere von arm und reich. Immer weniger Gewinnern stehen immer mehr entrechtete Verlierer gegenüber. Wie wird sich die Menschheit aus dieser Sackgasse, aus dieser Fehlentwicklung befreien können, und wie kann  Qigong dabei hilfreich sein? Wie kann Qigong dazu beitragen, unsere Welt friedlicher, sozialer und gerechter zu machen?

Zunächst bleibt festzuhalten, immer mehr Menschen in Ost und West erkennen den Nutzen von Qigong für ihre Gesundheit und zur Bewältigung ihres persönlichen Alltags. In der Prävention und Rehabilitation von Krankheit hat Qigong vielerorts seinen anerkannten Platz gefunden, ebenso in der Altenpflege und Hospizarbeit. Im pädagogischen Bereich kann Qigong helfen, Lernbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen, Stress und innere Unruhe beim Lehren und Lernen abzufedern. Unsere Kollegin Vera Kaltwasser macht ja gerade ein Forschungsprojekt darüber. In der Arbeitswelt könnte Qigong zur Verwirklichung humanerer Arbeitsbedingungen beitragen, die nicht nur maximale Profitmaximierung zum Ziel haben. Und im sozialen und gesellschaftlichen Umfeld könnte Qigong ein Mittel sein, der wachsenden Individualisierung und Vereinsamung der Menschen im Spätkapitalismus zu begegnen, sodass aus entfremdeten, hierarchisch-funktional organisierten Gesellschaften wieder echte Gemeinschaften entstehen.

Allerdings besteht schon jetzt und auch vermehrt in der Zukunft die Gefahr, dass Qigong für bestimmte Zwecke und einseitige Interessen vereinnahmt wird. Sollen Industrie- und Wirtschaftsmanager mit und durch Qigong noch effektiver ihren Profitinteressen nachjagen, sollen Sportler mit Qigong zu immer noch wahnwitzigeren Spitzenleistungen und Rekorden getrieben werden, sollen Astronauten Qigong erlernen, um sich auf ihren Flug zum Mars vorzubereiten, darf Qigong dazu dienen, andere Menschen zu manipulieren, willfährig zu machen oder sie gar sexuell zu missbrauchen? Ist Qigong eine Ware, die für alles und jeden verkauft werden darf? Nun ja, es gäbe noch genug Themen, um aufzuzeigen, wie und wo Qigong sich prima in den herrschenden Verhältnissen funktionalisieren lässt, und wo wir einen moralischen und ethischen Kodex brauchen, um nicht in die Situation zu kommen, dass wir mit dazu beitragen, das „Hamsterrad der Giergesellschaft“ noch schneller zu drehen.

Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit, Demut und Bescheidenheit, Mitgefühl und Güte, Vertrauen und Lebensmut, innere Ruhe und Gelassenheit sind Seelentugenden, die heutzutage etwas außer Mode gekommen sind, altmodisch erscheinen; doch es sind die Wirkkräfte, die entstehen, wenn wir mit Qigong unsere Organe reinigen, unser Organ-Qi läutern. Dann verändert sich unsere Persönlichkeit, verlagern sich unsere Wertvorstellungen. Das ist der Sprengsatz, der unsere herrschende Kultur und Ideologie infrage stellt, wo es zu einem Nichtmehrmitmachen und einem Innehalten kommen kann. Es ist ein wichtiger Schritt, um eins mit sich und der Welt, um gesund zu werden. Und damit – so glaube und hoffe ich – kann sich auch langfristig unsere Gesellschaft und Wirtschaftsweise verändern.

Noch sind wir dafür viel zu Wenige, aber wir werden immer mehr. Möge die Deutsche Qigong Gesellschaft ein Fahrzeug sein, das immer mehr Menschen auf den Weg bringt, möge sie auch in Zukunft offene Begegnung und freien Austausch ermöglichen, um so den inneren Gehalt des Qigong zu bewahren und das Shen in unserer aller Herzen erblühen zu lassen. Das Werk möge gelingen. Ich danke euch allen fürs Zuhören und wünsche euch noch einen angenehmen Abend.