2. Übung: Hengdan ri yue – Sonne und Mond auf einer Tragstange halten

Die Eröffnung dieser Übung erfolgt mit einer Verbreiterung des Standes. Im so genannten Reiterstand (MaBu) wird eine stärkere Verwurzelung und Erdung angestrebt. Nach dem Heben der Hände auf Schulterhöhe öffnen sich die Arme nach außen. Die Handherzen zeigen zum Himmel. Während in der 1. Fan Huan Übung eine Öffnung zur Erde hin erfolgte, wird jetzt – mit den Handflächen nach oben – eine Öffnung zum Himmel praktiziert. Diese Umkehrung entfacht eine neue Balance von Yin und Yang auf einem höheren Niveau, nämlich auf der Ebene des mittleren Dantian. Und in dieser spiegelbildlichen Verkehrung zur 1. Übung zeigt sich die enge Verflechtung der beiden Anfangsübungen, so dass der Ratschlag unseres Lehrers Prof. Cong, sie immer zusammen zu üben, stets befolgt werden sollte.

Sinn und Zweck der 2. Übung ist Yin und Yang in Bewegung zu bringen, so heißt es im Lehrgedicht, die polaren Kräfte sollen nicht mehr dualistisch getrennt, sondern in ihrer Einheit erlebt werden. Das ständig wertende und unterscheidende Alltagsdenken wandelt sich, Verstand und Emotionen, Wach- und Traumbewusstsein, Physisches und Metaphysisches, kausales und synergetisches Denken etc. durchdringen sich, bilden eine Einheit im Prozess des Übens.

Sonne und Mond sind nur die Synonyme für Yin und Yang. Mit den ausgestreckten Armen verbindet sich das Bild der Tragstange, und in der polaren Dynamik von Yin und Yang lässt sich auch die Frage nach dem Standort von Sonne und Mond – links und/oder rechts – nicht statisch, sondern nur in einem sowohl als auch beantworten. Mit dem Drehen der Handflächen zur Erde geht eine erste kreisende Kopf- und Beckenbewegung einher. Sie soll die aufsteigende Energie im Lenkergefäß wecken, die 3 Passtore öffnen und den Energiefluss im Kleinen Himmelskreislauf anregen. Gleichzeitig werden bei dieser Drehung der Handgelenke, die dort sich befindenden Quellpunkte angeregt. Sie aktivieren unser Ursprungs-Qi (YuanQi).

Das Tigermaul, d.h. die Stellung von Daumen und Zeigefinger, kann bei der Drehung der Handflächen zur Erde sowohl offen als auch geschlossen sein. In der offenen Stellung symbolisiert das Tigermaul den Mond, in der geschlossenen Stellung die Sonne. Die Sonne steht auch für das Helle, Klare und Bewusste in unserem Dasein, der Mond für das Dunkle, Trübe und Unbewusste. Je nach Bedürfnis kann man also diese Übungspassage in einer solaren oder lunaren Ausrichtung durchführen, sich dem Bewussten oder Unbewussten zuwenden.

Der nun folgende „Flügelschlag“ erinnert an die Bewegung des Kranichs im Kranich-Qigong. Hier wie dort wird das Qi mit den Vogelkrallenhänden vom Horizont herangezogen und zum Großen Wirbel (Dazhui) gebracht. Dann streckt man die Arme wieder aus, so als wollte man 2 Berge auseinander schieben; das Qi erreicht die aufgestellten Handflächen und bildet über Daumen, Handballen und Kleinfinger einen energetischen Flammenkranz, der anfangs offen – einem U-Buchstaben gleichend – und später – fortgeschritten – über die Fingerspitzen geschlossen die Handherzen umzüngelt. Auch bei diesem Vorgang kommt die kreisende Kopf- und Beckenbewegung (s. o.) zum Einsatz.

Danach werden die Handgelenke wieder gelockert und die Finger ausgestreckt; die Vorstellung geht von den Fingerspitzen bis zum Rand des Horizonts. Halbkreisförmig bewegen sich die Arme wieder zur Mitte, und während die öffnende Bewegung zuvor zum Himmel ausgerichtet war, ist jetzt die schließende Bewegung mit den Handherzen nach unten zur Erde orientiert. Ein weiteres Wechselspiel der polaren Kräfte Yin und Yang.

In einer leicht schwingenden Bewegung ziehen dann die Fingerspitzen „Qi-Fäden“ aus der Erde, gerade so als würde man „Wäsche aus einem Wasserbottich“ ziehen. Über dem Kopf richten sich die Fingerspitzen zum Himmel auf, greifen die „Wurzel des Himmels“, und das als TaiJi vereinigte und durchmischte Erd- und Himmels-Qi wird in die Krone des Kopfes, ins Baihui gefüllt. Auch hier ist wieder die Spiegelverkehrung mit dem Bewegungsablauf der 1. Übung interessant. Setzt man sich in der 1. Übung die Krone ab, so wird sie in der 2. Übung wieder aufgesetzt. Der himmlische Geist, das „klare Yang“ wird dabei in den Körper integriert; das formlose leere Yang Shen des Himmels verbindet sich mit dem ursprünglichen (Yuan) Shen im menschlichen Körper. Wahres und Bewusstes Wissen durchdringen sich erneut (s.o.).

Anschließend umkreist man mit dem offenen Tigermaul – Daumen und Zeigefinger – die Ohren und bestrahlt dabei erneut die Himmelsfensterpunkte am Hals. Nun werden die Hände am Kopf vorbei nach vorne geschoben. Sie bilden dabei eine offene Raute, durch die man mit dem Himmelsauge (Tianmu) hindurch schaut. Das Himmelsauge öffnet sich in der folgenden diagonalen Bewegung der Hände nach oben. Dies ist ein Vorgang, der den folgenden Übungsteil, das Umarmen unseres feinstofflichen Energiekörpers, unseres Qi-Mantels, unter Umständen optisch sichtbar werden lässt.

In einem großen eiförmigen Halbbogen sinken die Arme und Hände nach unten, aufrecht und mit mental geschlossenem Erdentor (Huiyin)  geht der Körper in die Knie. Die Handflächen umkreisen den „Flammenkreis unseres Energiefeldes“ bis hinunter zu den Knien. Die Hüften sind locker, und man hat das Gefühl als würde man auf einem Pferd reiten. Dann neigt sich der Oberkörper nach vorne, die Handflächen greifen das Erd-Qi, so als würde man in einem Fluss „goldenen Sand“ schöpfen, um ihn anschließend wie eine Opfergabe nach oben zum Himmel zu tragen. Eine nahezu rituelle Geste, um die „Hochzeit (Vereinigung) von Himmel und Erde“ zu zelebrieren.

Beim Aufrichten des Rumpfes krallen die Zehen sich in der Erde fest, der Anus wird leicht eingezogen, um das Erdentor am Beckenboden geschlossen zu halten. Die Hände tragen das geschöpfte Qi bis auf Höhe der Schultern. Dann gehen sie wieder vor dem Brustkorb auseinander, um die Übung zu wiederholen.

Fazit

Die geometrische Achse der 2. Übung ist die Horizontale. Die immer wieder geübten Wechselwirkungen der polaren Kräfte Yin und Yang helfen die Dualität in unserem Alltagsleben und –bewusstsein  zu erkennen und zu überwinden. Trennendes wird überwunden und geeint. Mit dem Aufsetzen der Krone erlangt man Bewusstheit über diese Prozesse.