Hintergründe

Fan Huan Gong – eine daoistische Übungsmethode aus dem alten China.

von Walter Gutheinz

Vorwort

Die nachfolgenden Bemerkungen zum Hintergrund und Gehalt der Fan Huan Übungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und allgemeine Gültigkeit.

Sie sind eine subjektive Sammlung meiner eigenen, nunmehr fast 20 Jahre andauernden Übungserfahrungen mit der Fan Huan – Methode, aber auch das Resultat von Erkenntnissen und Erfahrungen von WegbegleiterInnen, die sie mir im kollegialen Austausch vermittelt haben.

Mir ist bewusst, dass ich mit diesen schriftlichen Informationen mit einer langen Tradition der Übermittlung des Fan Huan Gong breche, wurden diese Übungen doch stets von Mund zu Mund, oder besser „von Herz zu Herz“, also durch direkte, persönliche Unterweisung von Lehrern auf SchülerInnen übertragen. Die globale Vernetzung unserer heutigen Welt rechtfertigt jedoch in meinen Augen einen weniger exklusiven und offeneren Meinungs- und Erfahrungsaustausch.

Die Lektüre meiner Hinweise und Deutungen soll und darf jedoch das eigene Erleben dieser in meinen Augen sehr gehaltvollen Qigong-Übungen in keiner Weise vorwegnehmen oder gar manipulieren. Es wäre also gut und wünschenswert, wenn sie alle meine unten aufgeführten Interpretationen und Erklärungen beim Üben gleich wieder vergessen könnten. 

Fan Huan – Rückkehr zum Ursprung

Fan Huan Gong besteht aus acht bewegten Übungen und vier so genannten Stillen Übungen. Im Folgenden werde ich sie der Reihe nach einer Betrachtung unterziehen.

  1. Übung: YiQi-SanQing – „Ein Qi-drei Dantien“

In kreisenden Bewegungen wird das Qi bewusst durch die drei Dantien (Zinnoberfelder) geführt:

Am Beginn steht die Kontaktaufnahme zur Erde; ausgehend von einer guten Verwurzelung im Qigong-Stand wird das Erd-Qi mit den Fingerspitzen aufgenommen und über die Innenseite der Beine ins untere Dantian gehoben. Danach wird mit einer zum Beckenboden führenden Hinwendung der Fingerspitzen HuiYin – das Erdentor – versiegelt. Jetzt die Hände halbkreisförmig drehen und die Handflächen mit den Handherzen (LaoGong-Punkten) bewusst zur Erde ausrichten.

Die Hände werden nach vorne geschoben und in einem großen Kreis vor dem Unterbauch wieder zurückgeführt. Diese kreisende Hinwendung zur Erde ist ein Symbol für die Annahme unserer irdischen Existenz, ein liebevolles Bekenntnis zu unserer Leiblichkeit, ein nachträgliches bewusstes Akzeptieren unserer physischen Geburt.

Auf der Höhe der 30iger Punkte (Magen 30, Gallenblase 30, Blase 30), die allesamt unser Qi mit dem der Erde verbinden, bildet sich ein Energiekreis durch die Bewegung des Öffnens (Yang) und Schließens (Yin); Getrenntes wird wieder zusammengeführt, aus Dualität entwickelt sich Polarität.

Es ist die Ebene des unteren Zinnoberfeldes (Dantian), die Heimat unserer Vitalität, chinesisch ausgedrückt die Ebene der Vitalsubstanz Jing (Essenz), die hier aktiviert wird. Liebevoll umarmt wird in diesem Prozess auch die mit dem irdischen Dasein aufs engste verhaftete Körperseele Po, die mit ihrem „dunklen“, d.h. meist unterbewussten Antriebspotential unsere Triebe, Instinkte, Wünsche und Bedürfnisse regiert.

Vor den Hüften werden die Handflächen nach oben zum Himmel gedreht und die kleinen Finger – sie beherbergen die Feuermeridiane Herz und Dünndarm – entlang der Leisten unter die mit „Nierenwasser“ gefüllte Beckenschale geführt, das bedeutet energetisch, dass Feuer unter das Wasser gebracht wird, damit Qi – Dampf – entstehen kann. Dieser Vorgang ist ein wesentliches Element in der Qigong-Übungspraxis und wird in vielen anderen Übungen auch praktiziert.

Vor dem Heben der Hände wird der Körper leicht nach vorne geneigt, eine archaisch-demütige Geste um sich vor dem Himmel zu verneigen. Mit der Wiederaufrichtung des Rumpfes werden auch die Arme gehoben, bis die Fingerspitzen etwas über Schulterhöhe sind. Dieser Vorgang ist eine Art Bewusstmachung: Das Dunkle, Abgründige des Wassers und der Körperseele Po wird ans Licht, ins Feuer, ins Bewusstsein gehoben. Die Po-Körperseele wird zur Hun-Geistseele gebracht, zum Herzen gehoben. Ein Vorgang der sich noch mehrmals in den folgenden Übungen wiederholen wird.

Damit haben wir die Ebene des mittleren Zinnoberfeldes (Dantian) erreicht, die ja im menschlichen Körper wesentlich für die Bildung der Vitalsubstanz Qi, seine Läuterung und Reinigung verantwortlich ist. Nach dem „Setzen“ der Hände werden die Handflächen so gedreht, dass die Fingerspitzen über die Schultern nach hinten zeigen. Die Spitzen der Ellbogen folgen nach und werden nach außen gedreht, die Brust wird geweitet, der „Herzfächer“ öffnet sich. Mit dieser Öffnung aktiviert sich unser Brust-Qi, Stagnationen und emotionale Blocks lösen sich, die Qi-Qualitäten des Herzens – Wärme, Liebe und Mitgefühl – kommen zum Vorschein. Je nach individueller Tagesverfassung lässt sich der Herzfächer mehr oder weniger öffnen.

Nun erfolgt ein kraftvolles Emporheben der Hände, wobei das Tigermaul zur Ohrwurzel gerichtet ist. Mit diesem Vorgang wird das 3. Passtor (Yu Zhen) des Kleinen Himmelskreislaufes, das „Tor des Schweigens“, überwunden. Mit einer Drehung der Handgelenke umkreist dann das Tigermaul die Ohren, wobei mit den Fingerspitzen alle Himmelsfensterpunkte angeregt werden. Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von zehn Punkten, die bis auf zwei alle am Hals lokalisiert sind. Diese Punkte verbinden den Rumpf – die Erde – des Menschen mit seinem Kopf – dem Himmel. In der klassischen Akupunktur werden diese Punkte bei Erkrankungen der Sinnesorgane und bei psychisch-emotionalen Problemen eingesetzt. Sie dienen allgemein der Stimmungsaufhellung.

Im Fan Huan Gong wird mit dem Überwinden des 3. Passtores und der Aktivierung der Himmelsfensterpunkte eine bewusste Verbindung zum Himmel hergestellt. Im Anschluss daran wird das obere Zinnoberfeld (Dantian) mit seinen neun Kammern oder „Palästen“ im Zentralbereich unseres Gehirns mit den zueinander zeigenden Handherzen bestrahlt. Der innerste Palast, im Chinesischen auch als „Niwan“ bezeichnet, ist die Wirkunsgstätte der Vitalsubstanz Shen (übersetzt als belebender Geist oder Bewusstsein). Indem der Geist klar, still und leer wird, wird Shen genährt und veredelt und mit dem universellen Geist des Himmels verbunden. Bewusstes Wissen – symbolisiert im Trigramm Li/Feuer – durchdringt Wahres Wissen –symbolisiert durch das Trigramm Kan/Wasser – , diese Praxis heißt im Qigong die Vereinigung von Kan und Li.

Modernes Leben mit seinem vorherrschenden Materialismus und dem allgemein abnehmenden Interesse an Spiritualität machen es in der heutigen Zeit dem Menschen immer schwerer Kontakt mit dem Himmel zu halten. Es ist fast eine Art therapeutischer Intervention, wenn man beim Üben von Fan Huan Gong sich in dieser Phase dem Shen des Himmels öffnet und geistige Klarheit, bewusstes Wissen in Verbindung zum Himmel schafft; Inspiration und Weitsicht sollen und können in unseren Alltagsgeist eindringen.

Im Folgenden werden beide Arme nach oben gestreckt, gerade so als wollte man sich einen Hut oder besser eine Krone absetzen. Dieses Strecken der Arme ist aber mehr ein passives Hinaufgezogenwerden, oft verbunden mit spiralförmigen Schwankungen des ganzen Körpers. Das Bild der von allen irdischen Schlacken befreiten Geistseele Hun, die aus der obersten Öffnung des Schädels – chinesisch dem Baihui – in der Stunde unseres physischen Todes zum Himmel steigt, ist hier nahe liegend und gegenwärtig. Das Abheben der Fersen von der Erde verstärkt noch diesen Sog in den Himmel. Interessant ist es, diesen Abschnitt auch mal mit geschlossenen Augen zu üben.

Doch die Reise zum Himmel ist nicht weiter opportun, sonst müsste der ganze

Übungszyklus eigentlich schon hier zu Ende sein. Mit dem bewussten Absetzen der Fersen wird die Rückkehr zur und auf die Erde vollzogen. Unsere irdische Heimat wird nicht verlassen, das irdische Leben bleibt gegenwärtig. Die Handgelenke werden gedreht, sodass die Handherzen nach vorne zeigen. Die Arme sinken leicht wie eine Schwanenfeder bis auf Brusthöhe und greifen vor der Brustmitte und dem Herzen einen Qi-Ball. Das zuvor bei der Aufwärtsbewegung praktizierte Öffnen des Herzfächers (s. o.) ist hierbei die Voraussetzung für die Aufnahme von frischem Qi. Nur das Qi-Quantum, das im und mit dem Herzen resonanzfähig ist, kann im unteren Dantian aufgenommen und bewahrt werden. Mit dem Einverleiben des Qi-Balles im unteren Dantian ist die 1. Übung beendet. Das Dantian wird dabei nicht geschlossen, sondern rautenförmig mit den Händen vor dem Unterbauch geschützt, die Eintrittspforte Qihai in der Mitte der Raute bleibt jedoch geöffnet.

Fazit: Die geometrische Achse der 1. Übung ist die Vertikale. Die Vitalsubstanzen Jing, Qi und Shen als verschiedene Aggregatzustände der Lebenskraft werden entsprechend dem Stufenweg des Qigong gesammelt, veredelt, vereint und bewahrt.

Dies ist die Voraussetzung um zur Quelle, zum Dao, zur Leere zurückzukehren. Absichtsloses Üben und bedingungslose Hingabe sind der Schlüssel für das Gelingen. 

  1. Übung: Hengdan ri yue – Sonne und Mond auf einer Tragstange halten

Die Eröffnung dieser Übung erfolgt mit einer Verbreiterung des Standes. Im so genannten Reiterstand (MaBu) wird eine stärkere Verwurzelung und Erdung angestrebt. Nach dem Heben der Hände auf Schulterhöhe öffnen sich die Arme nach außen. Die Handherzen zeigen zum Himmel. Während in der 1. Fan Huan Übung eine Öffnung zur Erde hin erfolgte, wird jetzt – mit den Handflächen nach oben – eine Öffnung zum Himmel praktiziert. Diese Umkehrung entfacht eine neue Balance von Yin und Yang auf einem höheren Niveau, nämlich auf der Ebene des mittleren Dantian. Und in dieser spiegelbildlichen Verkehrung zur 1. Übung zeigt sich die enge Verflechtung der beiden Anfangsübungen, so dass der Ratschlag unseres Lehrers Prof. Cong, sie immer zusammen zu üben, unbedingt befolgt werden sollte.

Sinn und Zweck der 2. Übung ist Yin und Yang in Bewegung zu bringen, so heißt es im Lehrgedicht, die polaren Kräfte sollen nicht mehr dualistisch getrennt, sondern in ihrer Einheit erlebt werden. Das ständig wertende und unterscheidende Alltagsdenken wandelt sich, Verstand und Emotionen, Wach- und Traumbewusstsein, Physisches und Metaphysisches, kausales und synergetisches Denken etc. durchdringen sich, bilden eine Einheit im Prozess des Übens.

Sonne und Mond sind nur die Synonyme für Yin und Yang. Mit den ausgestreckten Armen verbindet sich das Bild der Tragstange, und in der polaren Dynamik von Yin und Yang lässt sich auch die Frage nach dem Standort von Sonne und Mond – links und/oder rechts – nicht statisch, sondern nur in einem sowohl als auch beantworten. Mit dem Drehen der Handflächen zur Erde geht eine erste kreisende Kopf- und Beckenbewegung einher. Sie soll die aufsteigende Energie im Lenkergefäß wecken, die 3 Passtore öffnen und den Energiefluss im Kleinen Himmelskreislauf anregen. Gleichzeitig werden bei dieser Drehung der Handgelenke, die dort sich befindenden Quellpunkte angeregt. Sie aktivieren unser Ursprungs-Qi (YuanQi).

Das Tigermaul, d.h. die Stellung von Daumen und Zeigefinger, kann bei der Drehung der Handflächen zur Erde sowohl offen als auch geschlossen sein. In der offenen Stellung symbolisiert das Tigermaul den Mond, in der geschlossenen Stellung die Sonne. Die Sonne steht auch für das Helle, Klare und Bewusste in unserem Dasein, der Mond für das Dunkle, Trübe und Unbewusste. Je nach Bedürfnis kann man also diese Übungspassage in einer solaren oder lunaren Ausrichtung durchführen, sich dem Bewussten oder Unbewussten zuwenden.

Der nun folgende „Flügelschlag“ erinnert an die Bewegung des Kranichs im Kranich-Qigong. Hier wie dort wird das Qi mit den Vogelkrallenhänden vom Horizont herangezogen und zum Großen Wirbel (Dazhui) gebracht. Dann streckt man die Arme wieder aus, so als wollte man etwas wegschieben; das Qi erreicht die aufgestellten Handflächen und bildet über Daumen, Handballen und Kleinfinger einen energetischen Flammenkranz, der anfangs offen – einem U-Buchstaben gleichend – und später – fortgeschritten – über die Fingerspitzen geschlossen die Handherzen umzüngelt. Auch bei diesem Vorgang kommt die kreisende Kopf- und Beckenbewegung (s. o.) zum Einsatz.

Danach werden die Handgelenke wieder gelockert und die Finger ausgestreckt; die Vorstellung geht von den Fingerspitzen bis zum Rand des Horizonts. Halbkreisförmig bewegen sich die Arme wieder zur Mitte, und während die öffnende Bewegung zuvor zum Himmel ausgerichtet war, ist jetzt die schließende Bewegung mit den Handherzen nach unten zur Erde orientiert. Ein weiteres Wechselspiel der polaren Kräfte Yin und Yang.

In einer leicht schwingenden Bewegung ziehen dann die Fingerspitzen „Qi-Fäden“ aus der Erde, gerade so als würde man „Wäsche aus einem Wasserbottich“ ziehen. Über dem Kopf richten sich die Fingerspitzen zum Himmel auf, greifen die „Wurzel des Himmels“, und das als TaiJi vereinigte und durchmischte Erd- und Himmels-Qi wird in die Krone des Kopfes, ins Baihui gefüllt. Auch hier ist wieder die Spiegelverkehrung mit dem Bewegungsablauf der 1. Übung interessant. Setzt man sich in der 1. Übung die Krone ab, so wird sie in der 2. Übung wieder aufgesetzt. Der himmlische Geist, das „klare Yang“ wird dabei in den Körper integriert; das formlose leere Yang Shen des Himmels verbindet sich mit dem ursprünglichen (Yuan) Shen im menschlichen Körper. Wahres und Bewusstes Wissen durchdringen sich erneut (s.o.).

Anschließend umkreist man mit dem offenen Tigermaul – Daumen und Zeigefinger – die Ohren und bestrahlt dabei erneut die Himmelsfensterpunkte am Hals. Nun werden die Hände am Kopf vorbei nach vorne geschoben. Sie bilden dabei eine offene Raute, durch die man mit dem Himmelsauge (Tianmu) hindurchschaut. Das Himmelsauge öffnet sich in der folgenden diagonalen Bewegung der Hände nach oben. Dies ist ein Vorgang, der den folgenden Übungsteil, das Umarmen unseres feinstofflichen Energiekörpers, unseres Qi-Mantels, unter Umständen optisch sichtbar werden lässt.

In einem großen eiförmigen Halbbogen sinken die Arme und Hände nach unten, aufrecht und mit mental geschlossenem Erdentor (Huiyin) geht der Körper in die Knie. Die Handflächen umkreisen den Flammenkreis unseres Energiefeldes bis hinunter zu den Knien. Die Hüften sind locker, und man hat das Gefühl als würde man auf einem Pferd reiten. Dann neigt sich der Oberkörper nach vorne, die Handflächen greifen das Erd-Qi, so als würde man in einem Fluss „goldenen Sand“ schöpfen, um ihn anschließend wie eine Opfergabe nach oben zum Himmel zu tragen. Eine nahezu rituelle Geste, um die „Hochzeit (Vereinigung) von Himmel und Erde“ zu zelebrieren.

Beim Aufrichten des Rumpfes krallen die Zehen sich in der Erde fest, der Anus wird leicht eingezogen, um das Erdentor am Beckenboden geschlossen zu halten. Die Hände tragen das geschöpfte Qi bis auf Höhe der Schultern. Dann gehen sie wieder vor dem Brustkorb auseinander, um die Übung zu wiederholen.

Fazit: Die geometrische Achse der 2. Übung ist die Horizontale. Die immer wieder geübten Wechselwirkungen der polaren Kräfte Yin und Yang helfen die Dualität in unserem Alltagsleben und –bewusstsein zu erkennen und zu überwinden. Trennendes wird überwunden und geeint. Mit dem Aufsetzen der Krone erlangt man Bewusstheit über diese Prozesse.

  1. Übung: Ba Wang Ju Ding – Der König Ba hebt ein schweres Weihrauchgefäß/den Dreifuß

König Ba ist eine Persönlichkeit, die am Ende der Qin-Dynastie (etwa 200 v. Chr.) lebte und anscheinend über sagenhafte körperliche Kräfte verfügte. Der Sage nach konnte er ein 500 kg schweres Bronzegefäß hochheben.

Rein äußerlich betrachtet scheint es sich bei der 3. Übung tatsächlich um eine Übung zur Entwicklung der Muskelkraft zu handeln, fallen die Bewegungen auf den ersten Blick doch sehr athletisch und kraftvoll aus, was umgekehrt auch eine gewisse Kraft voraussetzt, um sie überhaupt durchführen zu können.

Doch es wäre keine harmonische, das Yin/Yang-Gleichgewicht fördernde Übung, ginge es nur um das Ziel der äußerlichen Kraftentfaltung. Nach dem Motto „Aus der Ruhe kommt die Kraft“ geht es darum, aus „dem Zentrum des Weichen das Feste zu entwickeln“, inmitten der starken nach außen gehenden Bewegung (yang) Ruhe und Stille (yin) im Zentrum zu bewahren.

Auch in Bezug auf die linke und rechte Körperseite kommt dieses Yin/Yang-Span-nungsverhältnis mehrfach zum Tragen; werden die Extremitäten der einen Seite stark bewegt, befinden sie sich die auf der anderen Seite in vollkommener Ruhe. Hier wird ganz deutlich die nahe Beziehung der Fan Huan-Methode zum Kampfsport sichtbar, gelten doch im Taiji und Kungfu ähnliche Prinzipien.

Mit den zum Himmel ausgestreckten Armen wird das Gewicht auf den rechten Fuß verlagert und das linke Bein herangezogen, der breite Reiterstand der 2. Übung aufgelöst. Der rechte Arm sinkt diagonal vor dem Körper bis zum Schritt – der 30er Zone (s.o.) – um dann Finger für Finger mit der Hand eine hohle Faust zu bilden, geradeso als würde man den Henkel eines schweren Gefäßes ergreifen. Der linke Arm bleibt währenddessen vollkommen ruhig, die Fingerspitzen halten den Kontakt zur Himmelswurzel.

Nun wird das linke Bein halbkreisförmig nach vorne bewegt und – im Knie abgewinkelt – nach oben gehoben, bis der Oberschenkel eine waagrechte Linie mit der Erde bildet. Gleichzeitig hebt die rechte Faust in einer spiralförmigen Bewegung das Gefäß nach oben bis an die Schläfe (Tai Yang), wobei im selben Moment der linke Arme nach unten sinkt. Dieses gleichzeitige Auf und Ab ist charakteristisch für das nachgeburtliche Qi von Milz und Magen und kann deshalb als typische, die Wandlungsphase Erde unterstützende Bewegung gelten.

Doch es kommt noch etwas Weiteres hinzu: Auf Höhe der Brust – im Bereich des mittleren Dantian -, wo sich beide Arme begegnen, entwickelt sich eine leichte, diagonale Dehnung nach außen, sowohl bei der rechten Faust nach oben, als auch bei linken Hand nach unten. Dies öffnet erneut den Brustraum im Bereich des Tanzong (Renmai 17) und stärkt das nachgeburtliche Zong-Qi. War die Geometrie der ersten Übung vertikal, die der zweiten horizontal ausgerichtet, so haben wir hier in der dritten Übung die Diagonale als weitere Übungsachse.

Während die offene linke Hand im Bereich der Hüften und des unteren Dantian die Erde stemmt, trägt die rechte Faust auf Höhe der Schläfe und des oberen Dantian den Himmel. Diese kraftvolle, ausdrucksstarke Geste bringt die Wirkungsstätten der beiden Vitalsubstanzen Jing(Essenz) und Shen(Geist) in Verbindung, schafft eine erste Beziehung zwischen der das Jing steuernden Körperseele Po und der das Shen beratenden Geistsseele Hun.

Außerdem vermittelt diese Geste auch einen narzisstischen Kniefall vor dem eigenen Ego. Es ist nicht ohne Witz und Hintersinn, dass man noch einmal König oder Herrscher – und natürlich auch Königin und Herrscherin – sein darf, bevor man die Dominanz des eigenen Egos versucht zu relativieren und zurückzudrängen. Einbeinig stehend bin ich ganz da, fülle meinen Raum und meinen Platz aus, bin meiner Selbst ganz sicher, stark und nicht mehr angreifbar. In dieser Haltung kommen keine Selbstzweifel auf, Depressionen und Minderwertigkeitsgefühle haben keinen Platz.

Doch nichts ist auf dieser Welt von Dauer. Die Anhaftung an Macht, Stellung, Herrschaft, Besitz oder Reichtum wird nur überwunden durch das Erkennen der Vergänglichkeit dieser die Körperseele Po so faszinierenden Phänomene. Indem man die Gelüste der Körperseele in einer Art „Macho-Geste“ noch einmal theatralisch zum Ausdruck bringt, wächst die Bereitschaft diesen Gelüsten nicht mehr zwanghaft nachzujagen. Das ist der humorvolle Bedeutungsgehalt dieser zentralen Passage der 3. Fan Huan-Übung.

In der folgenden Phase bleibt die rechte Körperseite völlig unbewegt (yin), während links Arme und Beine in Aktion sind (yang). Die linke Hand streichelt über die Erde und dreht sich im Handgelenk zum Himmel; währenddessen sinkt das linke Bein, streckt sich und die linke Fußspitze berührt leicht die Erde, geradeso als würde ein Vogel auf das Wasser tippen. Gemeinsam heben sich nun das gestreckte linke Bein und der linke Arm bis auf Hüfthöhe. Ellbogen und Knie knicken ab, der linke Unterschenkel sinkt (yin) und der linke Unterarm steigt (yang), bis die Fingerspitzen sich auf Augenhöhe befinden und der linke Fuß die Knieaugen des rechten Beins bedecken. Ellbogen und Knie sind die Scharniere zwischen innen und außen im Meridiansystem des Menschen, und sie stehen hier in einer direkt wahrnehmbaren energetischen Verbindung.

Nachdem nun auch der linke Arm das Gefäß bis auf Kopfhöhe gehoben hat, klappt die linke Handfläche im Handgelenk nach unten (yin), während gleichzeitig die linke Fußsohle im Sprunggelenk angehoben wird (yang). Hand- und Sprunggelenke beherbergen die Quellpunkte, mit denen sich das Ursprungs-Qi (Yuan-Qi) des Menschen in allen Meridianen aktivieren lässt. Hand und Sprunggelenke zu bewegen dient hier, wie in vielen anderen Qigong-Übungen auch, der Anregung und Stärkung des Ursprungs-Qi’s.

Mit einer Drehbewegung des angewinkelten linken Beines um 90 Grad nach außen öffnet sich die linke Leiste, das linke Bein streckt und senkt sich mit einem Schritt nach links, wobei zuerst die Ferse den Boden berührt. Das rechte Standbein ist weich und sinkt dabei etwas. Das Gewicht verlagert sich nun auf das linke, vordere Bein. Die linke Handfläche dreht in einem kleinen Halbkreis nach links außen, geradeso als würde man einen Schwertstreich ausführen. Gleichzeitig hebt die rechte Ferse vom Boden ab, und auf der Großzehenspitze wird der hintere rechte Fuß in die Bogenschrittstellung gedreht und bewusst nieder gestellt. Das Gewicht verlagert sich nun in die Mitte zwischen beiden Beinen.

Jetzt öffnet sich die rechte Faust und die beiden Hände heben dann – das Tigermaul jeweils aufeinander zeigend – das Tiegelgefäß über den Kopf. Die Hüften schieben sich etwas nach vorne und der Rücken bildet einen nach oben gekrümmten Bogen, eine Haltung, als würde man den ganzen Himmel hochstemmen und den Mond betrachten. Man schaut durch die von den beiden Tigermäulern zu einer Raute geformten Hände nach oben und betrachtet den Boden des Weihrauchgefäßes mit dem Siegel des Herrschers.

Von Mingmen – dem Lebenstor ausgehend – entspannt und lockert sich die Wirbelsäule, das Gewicht geht zurück auf den rechten hinteren Fuß, wodurch der linke Fuß auf der Ferse wieder in die Ausgangsstellung nach vorne gedreht werden kann. Die Arme öffnen sich leicht und bilden über dem Scheitelpunkt BaiHui einen Trichter für die Aufnahme des Himmels-Qi.

Nach der Drehung wird das Körpergewicht auf den linken Fuß verlagert, der linke Arm sinkt nach unten und das rechte Bein streckt sich halbkreisförmig nach vorne, wobei die Fußspitze wieder zur Erde zeigt. Jetzt wird die Übung seitenverkehrt wiederholt.

Am Ende der 3. Wiederholung wird das linke Beine nicht mehr auf der Ferse nach vorne gedreht, sondern zum rechten Fuß herangezogen. Man steht V-förmig Ferse an Ferse und lässt Hände und Arme auf Dantian sinken.

Fazit: Die Wirkrichtung der 3. Fan Huan-Übung ist die Diagonale. Das Antriebspotential der Körperseele Po wird noch einmal dramatisch in Szene gesetzt, um es dann liebevoll und ohne Zwang zu relativieren. In anderen Worten, wer seine Ego-Kräfte abbauen will, muss erst mal welche haben.

  1. Übung: Falun Changzhuan – Das große Rad beständig drehen

Das große Rad drehen ist eine mystische Übung zur Verfeinerung des Qi; man öffnet sich in eine neue Dimension, in den Wirkungsbereich der Hun- oder Geist-Seele. Mit dieser Übung findet eine Transformation von der Ebene des Körperlich-Grobstofflich-en zur Ebene des Geistig-Feinstofflichen statt.

„Das Große Rad“ ist eigentlich bekannt als Begriff aus dem Buddhismus, wo es als „Lebensrad“ verstanden wird, und wo es darum geht die karmatisch geprägte, endlose Zahl der Wiedergeburten zu durchbrechen und ins Nirwana einzugehen. „Das Rad drehen“ verfolgt also buddhistisch interpretiert das Ziel, dem Kreislauf der Widergeburten zu entfliehen, sodass die Hun-Seele in keinen gewöhnlichen Körper mehr schlüpfen muss.

Aus daoistischer Sicht kann man das Rad aber auch als „rückläufiges Mühlrad“ verstehen, und dadurch entsteht ein Bezug zum Kreislauf der Energie, speziell dem „Kleinen Himmelskreislauf“; einer Übungsmethode, die das Lenker- und Konzeptionsgefäß energetisch miteinander in Verbindung bringt. Diese uralte daoistische Meditationsübung ist in der Tafel des Inneren Gewebes (chinesisch Nei Jing Tu), die man in Peking im Tempel der weißen Wolke im Original bewundern kann, in Form eines Gemäldes mit schriftlichem Begleittext dargestellt.

Und tatsächlich findet sich im unteren Teil des Bildes ein Mühlrad, das von einem Jungen und einem Mädchen gedreht wird. Sie pumpen das Wasser – energetisch die Essenz und das daraus destillierte Ursprungs-Qi durch das Steißbein-Tor, den Weilü-Pass – entgegen seiner natürlichen Bewegungsrichtung – nach oben in den Rückenmarkskanal.

Im Begleittext heißt es: „Das Wasser des abgründigen Kan fließt gegenläufig nach oben. … ganz allmählich vollzieht sich der Umlauf der treibenden Kraft und ändert das Fließen des Wassers nach Osten. Auch wenn der Meeresgrund 10 000 Fuß Tiefe hat, sollte man das Sprudeln der süßen Quelle erkennen, das bis zum Gipfel der Südberge – gemeint ist das Gehirn (Anmerkung d. V.) – aufsteigt.

Dass dieser Bedeutungsrahmen nicht ganz unzutreffend ist, kann auch aus dem Gedicht herausgelesen werden, das der 4. Übung des Fan Huan Gong beigefügt ist. Hier heißt es ganz eindeutig: „Das Große Rad beständig drehen gleicht dem Kreislauf der Energie. …. Das Mark – gemeint ist das Rückenmark und die Gehirnsubstanz (Anmerkung d. V.) – neun Jahre lang waschen, bis es alle Farbe verloren hat – nach rechts, nach links ohne Pause die Drehung in Gang halten.“

Die Drehbewegungen des Rumpfes und die Bewegungen der Arme nach oben und unten verbinden den Übenden in der 4. Fan Huan-Übung also nicht nur mit dem Qi von Himmel und der Erde, diese Bewegungen symbolisieren und aktivieren zugleich auch den „Kreislauf des Lichts“, die Zirkulation der Energie im Lenker- und Konzeptionsgefäß.

Ausgehend vom engen V-Stand am Ende der 3. Bewegung dreht sich der Rumpf nach links; die Knie bleiben dabei weich und locker. Die linke Hand folgt der Körperdrehung und geht gürtelförmig nach hinten zur Lendenwirbelsäule. Der Handrücken legt sich auf das Lebenstor, den Mingmen-Bereich, wobei Daumen und Zeigefinger einen geschlossenen Ring bilden, der zum Himmel zeigt. Die rechte Hand liegt schalenförmig unter der vorderen Eintrittspforte des unteren Dantian, dem Qihai-Punkt. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand berühren sich nicht, bilden aber einen offenen energetischen Ring.

Wie schon bei der 2. Übung erklärt, wird das geschlossene Tigermaul mit der Sonne, das halboffene mit dem Mond in Verbindung gebracht. Sonne und Mond stehen auch für verschiedene Aspekte des Shen (s. o.). Das Tagesbewusstsein, die Sonne, wandert also bei der oben beschriebenen einleitenden Übungsphase aus dem Blickfeld und geht nach hinten zum Rücken, ins Dunkle, in die Nacht: Bewusstes, Offensichtliches, Sichtbares, Rationales rückt in den Hintergrund. Der Mond, das Traum- und Tiefenbewusstsein, bleibt vorne im Gesichtskreis, d.h. Unbewusstes, Intuitives, Schöpferisches, Mystisches wird ans Licht gebracht.

Während die linke Hand – die Sonne – auf Mingmen ruht, beginnt die rechte Hand – der Mond – mit der Einatmung zu steigen und folgt dabei der Drehung des Rumpfes nach links. Auf Höhe des Scheitels angekommen dreht die Handfläche nach vorne und dann nach rechts außen. Der Rumpf und der Kopf folgen dieser Drehung nach rechts, sodass der Blick auf den rechten Handrücken fällt.

Nun beginnt mit der Ausatmung die rechte Hand zu sinken, wobei sich die Fingerspitzen langsam nach unten zur Erde neigen. In der Verdrehung nach rechts beugt sich auch der Oberkörper nach unten, der Rücken bleibt dabei gerade, die Hüften sind locker, die Knie weich und leicht gebeugt.

Die rechte Hand fährt mit der Kreisbewegung fort und streicht vor den Füßen von links nach rechts über die Erde; Kopf und Rumpf drehen sich mit. Am Ende der Bewegung nach links dreht sich die rechte Handfläche langsam nach oben zum Himmel. Mit der erneuten Einatmung beginnt die Hand wieder zu steigen, Lenden-, Brust- und Halswirbel richten sich auf, wobei die Verdrehung des Rumpfes nach links aufrechterhalten wird, bis die Fingerspitzen wieder wie Antennen zum Himmel zeigen.

Anschließend dreht der Rumpf nach vorne und über die Mitte wieder nach rechts. Die Mondhand folgt und beschreibt mit der Ausatmung einen Viertelkreis nach unten, bis sie auf Höhe der Hüften angelangt ist. Jetzt tauschen die Hände ihre Rollen. Der Mond verwandelt sich in eine Sonne, das heißt das Tigermaul der rechten Hand schließt sich und der rechte Handrücken legt sich auf Höhe des 2. und 3. Lendenwirbels im Mingmen-Bereich auf den unteren Rücken. Gleichzeitig öffnet sich das Tigermaul der linken Hand, die Sonne wird zum Mond; die linke Hand kommt kreisförmig nach vorne vor den Unterbauch und mit der Drehbewegung nach rechts beginnt der Mond erneut zu steigen. Wie oben beschrieben, jedoch seitenverkehrt, wird die Kreisbewegung jetzt mit der linken Hand vollzogen.

Nach dem 4. Handwechsel steigt die rechte Hand ein letztes Mal nach oben zum Himmel, die linke Hand löst sich gleich wieder vom Lebenstor, sodass mit den Armen eine Erd-Himmels-Achse entsteht. Dann strecken sich beide Arme auf Schulterhöhe horizontal aus, und mit den Fingerspitzen hat man das Gefühl den fernen Horizont zu berühren. Mit einer sammelnden Bogenbewegung schließen sich die Arme vor der Stirn und die Hände führen einen Qi-Ball hinunter zum Unterbauch, ins untere Dantian. Dann die Hände rautenförmig vor Dantian halten und in dieser Position die Aufmerksamkeit einen Moment lang im unteren Zinnoberfeld halten.

Die Nabe, das Zentrum des Rades oder der Kreisbewegung ist das Mingmen, unser Lebenstor. Während hier im Wechsel eine Hand ruht, kreist die andere unaufhörlich, was auch eine Regulation von Yin und Yang ergibt. Mit dem Mondlauf, der Kreisbewegung der aktiven Hand, berührt man gleichzeitig die Erd- und die Himmelswurzel.

Der Mensch, als Mittler aufgespannt zwischen Himmel und Erde, greift das Qi der Erde, führt es nach oben, um es in den Himmel zu senden. Umgekehrt empfängt er das Qi des Himmels, um es weit in die Erde sinken zu lassen. So vereinigt der Mensch bewusst Himmel und Erde.

Die körperlichen Durchgangskanäle für diesen Austausch von Erd- und Himmels-Qi

sind die Leitbahnen, unsere Meridiane, wobei im beschriebenen Übungsablauf der 4. Fan Huan Übung neben den Leitbahnen von Blase und Gallenblase besonders auch das Lenker- und Konzeptionsgefäß angesprochen sind bzw. aktiviert werden. Die dem Qigong-Üben innewohnende Dialektik setzt hier einerseits geöffnete, freie Leitbahnen voraus, andererseits führt das Ausführen der Bewegungen genau auf dieses Ziel hin. Es ist also angesagt auf jedem Niveau, in jedem Zustand damit anzufangen.

Das Kreisen des Mondes bedeutet, auf den Punkt gebracht, eine Sichtbarmachung bzw. nicht wertende Wahrnehmung unserer oft un- bzw. unterbewussten Ego-Strukturen. Damit verstärkt die 4. Übung zunächst einmal noch das, was meist im tiefsten Keller unserer Körperseele schlummert, z.B. Regungen wie Gier, Überheblichkeit, Machtstreben, Verlustangst und viele andere mehr oder weniger obsessive Leidenschaften. „Müssen, Wollen, Haben“ sind die Leitwörter, die uns umtreiben, wenn die Po-Seele unser Bewusstsein sklavisch beherrscht und unsere Handlungen bestimmt.

Wenn wir lernen diesen Mechanismen auf die Schliche zu kommen, wenn wir die Wahrnehmung unseres „Inneren Beobachters“ schärfen, öffnet sich der Weg um Schritt für Schritt von so manchen versteckten Anhaftungen und Begierden frei zu werden. So können wir die Dominanz der Körperseele Po behutsam eindämmen, ohne sie dabei ganz in Frage zu stellen. Nicht jeder Trieb muss weiterhin instinkthaft ausgelebt werden, nicht jedes Bedürfnis schreit nach sofortiger Befriedigung mehr. Dies nennen die Daoisten seit altersher „die Po-Seele erleichtern“ oder „den Roten Staub“ beseitigen. Ein wichtiger Vorgang im Prozess der Selbstkultivierung.

Und genau dieser Vorgang ist auch im Text der 4. Fan Huan-Übung gemeint, wenn vom unermüdlichen „Waschen des Marks“ die Rede ist. Das Mark, die materielle Substanz unseres Gehirns, wird gereinigt. Dann ist unser Leben nicht mehr vorrangig oder gar triebhaft von materiellen Bedürfnissen gesteuert. Universelle Erkenntnis, Klarheit des Bewusstseins, Weisheit und Gelassenheit bestimmen unseren Geist und unsere Gefühle, und klares, korrektes Handeln im Sinne des WuWei regiert unser Tun.

Fazit: Die geometrische Form der 4. Übung ist der Kreis. In den folgenden Übungen ergibt sich keine weitere geometrische Struktur. Die materiell-physische Welt mit ihren Grenzen von Raum und Zeit wird überwunden, sobald wir in die 5. Übung eintreten. Es ist die Welt der Geistseele Hun, in der wir uns nun bewegen. Diese haftet im Immateriellen, im Metaphysischen.

  1. Übung: Peng Zu Ma Xu – der alte Peng streicht seinen Bart aus

Die fünfte Übung des Fan Huan Gong beginnt wie die erste mit einem Eröffnungsschritt nach links. Dies geschieht nicht von ungefähr, denn wir treten in eine neue Sphäre des Übens ein:

Von der Ebene der Körperseele Po und ihrer Anhaftung im Materiellen, die besonders die Befriedigung unserer elementarsten Triebe, Instinkte und Bedürfnisse zum Thema hat, gelangen wir im zweiten Abschnitt des Fan Huan Gong in die Sphäre der Geistseele Hun, die im Immateriellen haftet und unsere geistige Ausrichtung steuert. Dabei soll das Üben nicht zu einer Verdrängung oder Geringschätzung der Welt der Po führen, sondern Hun und Po sollen sich in einer neuen Art und Weise aufeinander beziehen. Die von ihrer Zwanghaftigkeit und Begierde erleichterte Körperseele (s. o.) wird zur Begleiterin der Geistseele, deren Kultivierung nun in den Mittelpunkt des Übens rückt: Das Geistige – die Hun – braucht die Materie, das Körperlich-Stoffliche – die Po – zu ihrer Entfaltung; und die Materie braucht das Geistige zur Erlösung.

Namensgeber der 5. Übung ist der chinesische Methusalem Peng Zu, dem man das sagenhafte Lebensalter von über 800 Jahren nachsagt. Er ist ein Volksheiliger aus der Zeit des chinesischen Altertums, gehört im daoistischen Pantheon zu den acht Unsterblichen und laut Prof. Cong wird er auch heute noch besonders in Südchina außerordentlich verehrt. Die Armbewegungen in der Übung deuten auf einen für Chinesen sehr langen „Nikolaus-Bart“ hin, das besondere Merkmal eines extrem langen Lebens.

Langlebigkeit ist ein zentrales Thema der daoistischen Naturphilosophie und in der Person des Peng Zu hat es zu zahlreichen Legendenbildungen und Spekulationen geführt. So werden ihm spezielle Techniken in der „Kunst der wechselseitigen Kultivierung“ – auf Deutsch übersetzt im Bereich der Sexualpraktiken – zugeschrieben, die das Jing, unsere Essenz auf spezielle Art nähren und bewahren helfen. Die „Kunst des Schlafzimmers“ war in der chinesischen Geschichte bis heute immer ein sehr umstrittenes Thema, und nach Ansicht von Prof. Cong war die Langlebigkeit des Peng sicher nicht nur auf seine vermeintliche Meisterschaft in diesem Bereich zurückzufüren.

Betrachtet man die Bewegungen der 5. Übung in Gänze, so haben sie eine sehr leichte, fast tänzerische Note; sie wirken elegant und fast schwerelos. Sie unterscheiden sich deshalb im Gestus und Habitus sehr stark von den kraftvollen Bewegungen des Herrschers Ba in der 3. Übung. Gerhard Wenzel charakterisierte die Übung einmal in Berlin als weiblich, sie soll im Zeichen der Venus geübt werden. Nun ist das mit den Etiketten weiblich/männlich heutzutage so eine Sache, doch Tatsache ist, dass die Übung eher weiche, yinigere Züge trägt, und wer sie übt, wird sie in der Regel eher langsam und bedächtig ausführen und sich dabei vielleicht sogar etwas selbstverliebt den Bart streichen. Es kann und darf also ein gewisser Narzissmus rund um den Bart gepflegt werden.

Auf den Punkt gebracht kann man die 5. Fan Huan Übung als eine Reinigungsübung begreifen. Die Arme und Hände, die den langen Bart umfassen, machen die Reinigungsarbeit indem sie sichelförmig von den Ohren über die Brustmitte diagonal nach unten zu den Rippenbögen streichen. Das von der Herzenergie dominierte mittlere Dantian ist dabei die Reinigungsinstanz, quasi die energetische „Waschmaschine“. Doch was gilt es überhaupt zu reinigen?

In der Traditionellen Chinesischen Medizin ist die Körperseele Po die Herrscherin über die sinnliche Wahrnehmung. Nach der Geburt vermittelt uns die Po-Seele die Fähigkeit des Empfindens und Fühlens. Ist die Po präsent, so sind Augen, Nase, Mund und Ohren sowie unsere Tastorgane wach und scharf und können alle Sinnesreize aufnehmen und unterscheiden.

Außerdem wird die Sinneswahrnehmung mit dem Tierbild des Drachen (Long), der Wandlungsphase Holz und dem Osten, also dem jungen Yang in Verbindung gebracht. Drachen sind normalerweise in der westlichen Mythologie wilde, Feuerspuckende Wesen, die von edlen Rittern meist bekämpft und vernichtet werden. In der östlichen Mythologie sind Drachen eher Symbole für Weisheit und Fürsorge. Ihre Energie muss transformiert werden.

Was aber heißt das in Bezug auf die Sinneswahrnehmung? Normalerweise verarbeitet unser Gehirn nur ein Bruchteil der Sinnesreize bewusst im Großhirn. Die meisten Reize werden entweder gar nicht oder unbewusst und automatisiert in anderen Hirnarealen und Nervenstrukturen verarbeitet. Das ist auch gut so, denn würden alle Sinnesreize uns zu Bewusstsein kommen, würden wir glatt in den Wahnsinn getrieben. Es gibt also gewisse biochemisch-elektrische Strukturen im Gehirn, die wie Filter auf unsere bewusste Sinneswahrnehmung wirken und uns vor dem äußerlichen „Reiz-Chaos“ schützen.

Gerade in unserem heutigen Medienzeitalter mit seiner noch nie da gewesenen Informationsflut und Reizdichte ist die Bedeutung dieses Schutzes notwendiger denn je. Symbolisch gesagt ist der Drache heutzutage so überfordert, dass er ständig vor dem Burn out oder Kollaps steht, was uns oft noch nicht einmal so recht zu Bewusstsein kommt, denn die meisten Informationstechnologien und Werbestrategien zielen heutzutage auf unser Unterbewusstsein.

Den Drachen zu transformieren kann demzufolge nur heißen, unsere Filter gegen all diese offensichtlichen oder unterschwellig-manipulativen Reizattacken verstärkt in Stellung zu bringen. Man denke an das Bild der 5 Affen, die sich Augen, Nase, Mund und Ohren zuhalten, um sich von Außenreizen abzuschirmen. Diese achtsame „Befreiung von den Außendingen“ geht einher mit einer Neuorientierung der Sinne auf unser Inneres. Die sinnliche Gewahrsamkeit findet nicht mehr vorwiegend im Außen statt, sondern mehr und mehr im Inneren; eine ganz neue Art von Kino.

Sinneseindrücke erzeugen in unserem Kopf und Herzen stets auch Gedanken und Gefühle, bringen diverse Leidenschaften hervor, so z.B. Freude und Begierden, Kummer und Trauer, Zorn und Hass, Angst und Furcht. Diese Emotionen haben alle einen gravierenden Einfluss auf unseren Qi-Haushalt. Zorn lässt im Allgemeinen das Qi nach oben steigen, Kummer verknotet das Qi, lässt es stagnieren, übermäßige Freude und Begierde zerstreut das Qi, Angst lässt das Qi erstarren, blockiert seinen Fluss etc.

Deshalb spricht man auch von den 5 Affen als den 5 „Qi-Räubern“.

Eine Beruhigung der Leidenschaften, d.h. eine Stabilisierung und Harmonisierung unserer Gemütsbewegungen ist also für einen ausgeglichenen Qi-Haushalt unerlässlich.

Dazu bietet uns im Qigong die mitfühlende und nicht anhaftende Energie des Herzens ein wirksames Handwerkszeug. Denn jede pathologische und krankmachende Emotion lässt sich auf der Herzebene durch eine polare Gefühlsregung bearbeiten, ausgleichen oder gar beseitigen.

Die Güte des Herzens lässt Zorn und Ärger vergessen, hilft beim Verzeihen können, Zuversicht und Vertrauen im Herzen erleichtern uns von Kummer und Sorgen, innere Ruhe und Gelassenheit lassen uns besser mit Angst umgehen, Freude und Mitgefühl im Herzen relativieren Zustände von tiefer Trauer und Depression und das nicht-anhaftende, wunschlose Herz macht uns immer wieder frei von Süchten und Begierden. Mit der Bewusstmachung dieser Polaritäten lässt sich unser Gefühlsleben neu ausrichten, entwickelt sich ein Mechanismus, der uns vom zwanghaften Ausagieren unserer Emotionen befreit; denn nicht die Emotion an sich – z. B. die Sorge – ist krankmachend, sondern das krampfartige Festhalten an ihr.

Wenn wir also in der 5. Fan Huan Übung mit dem Tigermaul unserer Hände vom Schläfen/Ohr-Bereich des Kopfes diagonal über die Brustmitte nach unten zu Milz-Pankreas und Leber streichen, dann symbolisiert das diesen Reinigungsprozess. Die Bewegung des Bart-Ausstreichens (Ma Xu) ist ein Ableiten, Umwandeln und Reinigen blockierter Lebensenergie, die ausgehend von unseren Sinnesorganen im Kopf in Form von Gedanken und Gefühlen sich staut. Unsere Sinne gelten als „die sechs Wurzeln der Unreinheit und Befleckung“. Sie bringen Gefühle und Projektionen hervor, die im Brustbereich – auf der Ebene des Herz-Geistes – bewusst gemacht, besänftigt, transformiert und dann abgeleitet werden. Der oftmals obsessive, meist unnütze Gefühls- und Gedankenstau, der uns selbst verletzt und uns auch nicht selten dazu bringt, Andere zu verletzen, wird aufgelöst.

Mit den mondsichelartigen Bewegungen des Bart-Ausstreichens wird der Drache – die Sinneswahrnehmung und -verarbeitung transformiert, kombiniert mit tänzerisch -wiegenden Drehbewegungen der Hüften und Beine. Das gereinigte und kultivierte Qi wird anschließend mit beiden Handflächen von Leber und Milz ausgehend erst etwas abgesenkt und dann vor dem Körper über den Kopf gehoben, wobei das jeweilige Spielbein ebenfalls angewinkelt mit angehoben und dann in einem kleinen Ausfallschritt seitlich nieder gestellt wird.

Aufrecht im Bogenschritt stehend wird jetzt mit den beiden Tigermäulern das geläuterte Qi in das Schädeldach (Bai Hui) eingeführt. Die Hände streichen über die Schläfen (Tai Yang), Ohren und Wangen nach unten, und an der Kinnspitze wird der Bart noch einmal symbolisch mit den Tigermäulern beider Hände umfasst und liebevoll über die vordere Mittelachse des Rumpfes bis hinunter zum Unterbauch ausgestrichen. Innerlich wandert das Reingewaschene Qi im Zentralkanal durch das obere und mittlere Dantian zum unteren Dantian.